Tales of Snowcat 3: Rescue (SatHS S3/E2)

TALES OF SNOWCAT (3)

PERIOD6: Magician

ERA6: Light Baroque

AGENDA12: Boston Lockdown

DATE1: 06/ 11-14/ 2076

BROADCAST6: Unter „SatHS in Danger“ wird Material als Dokumentation der Situation in Boston gedreht. Folge 2 wird ab 07/10/2076 als Stream zur Verfügung gestellt.

PRODUCTION: Spinrad Media

APPEARANCE2 : AveRAGE, Columbo,  Doc, Eden, Fang, Fierce, Foggy, Liam (aka Sapper), Mash, Mr. Tea, Shark Finn, Sinister, Snowcat, Tiernan;

SPECIAL APPEARANCE2;7: Dave, Hub-Blogger, Tango

SPOILER ALERT: Die Episode enthält massive Spoiler auf Boston Lockdown von Catalyst Game Labs

WARNING: Diese Trideo-Serie ist für Zuschauer unter 17 Jahren nicht geeignet. Sexualität, Gewalt, Magie, Tod, Kraftausdrücke und Drogenkonsum können vorkommen. Mitglieder der Howling Shadows sind in Waffen- und Magiegebrauch ausgebildet und sind sich der tödlichen Gefahr bewusst, mit der sie es während des Drehs zu tun haben. Zuschauer werden gebeten, diese Dinge nicht nachzumachen, es sei denn, es wird in einem Nachspann-Clip ausdrücklich erlaubt. Ferner ist absolut davon abzuraten, sich auf eigene Faust mit den gezeigten oder ähnlichen magischen Gefahren, Geistern und/oder Crittern anzulegen.

ANMERKUNGEN

1. Der Zeitstempel wird an unsere Zeitlinie angepasst und ist maximal an die offizielle Timeline angelehnt.

2. Die Episode wurde am 20.10. und 03.11.2017 erspielt. Neben dem GM und mir, war am 20.10 der Spieler von Eden/Mr. Tea und am 03.11. die Spieler von AveRAGE/Columbo und Fang/Sinister anwesend. Wegen den Widrigkeiten und Schönheiten des RL können nur selten alle Spieler am Spielabend teilnehmen. Deshalb können Charaktere ohne weitere Erklärung auftauchen oder verschwinden. Darüber, welche Charaktere mit auf einen Run gehen, entscheiden die Spieler nach eigenem Gefallen. Das muss nicht immer die logistische Entscheidung sein. Manchmal ist ein Charakter mit auf einem Run, obwohl sein Spieler abwesend ist. In diesen Fällen wird der Charakter zwar mitgeführt, sein Handeln gerät, wenn möglich, aber in den Hintergrund. Der Spotlight soll auf Charakteren stehen, deren Spieler anwesend sind. Gegebenenfalls hinterlassen Spieler beim GM Regieanweisungen.

Eine Beschreibung aller Charaktere und Marks findest du hier [LINK].

Eine Übersicht von Cast und Crew von SatHS findest Du hier [LINK].

3. Die verlinkten Songs sollen lediglich zu Stimmung beitragen und enthalten keine versteckten Hinweise. Jedenfalls meistens nicht :). Übrigens kaufen wir jeden in den Episoden verwendeten Song, sollte er sich nicht schon vorher in unserem Besitz befunden haben. Nicht nur, damit wir die Songs jeder Zeit auf all unseren Geräten abspielen können, sondern auch, weil wir damit den jeweiligen Künstler unterstützen möchten. Eine Liste mit dem kompletten SatHS Soundtrack findest du hier [LINK]. Eine YouTube Playlist zur aktuellen Season findest du hier [LINK].

4.Die Truppe mit der Captain America (Marvel) im zweiten Weltkrieg gegen Hydra ins Feld zieht, heißt „Captain America and the Howling Commandos". Daran angelehnt, entstammt die Titelidee eigentlich. Abgesehen davon, ist „Howling Shadows“ der Titel des aktuellen Shadowrun®-Critter Quellenbuchs von Catalyst. Wir fanden die Doppeldeutigkeit gerade bei der Zusammensetzung des Teams passend. 

5. Eine Übersicht des Steampunk- Journals findest Du hier [LINK].

6. In den ‚Tales of Snowcat’ erzählt Snowcat einem imaginären, nicht näher definierten Zuhörer die Ereignisse aus ihrer ganz persönlichen Sicht. ‚Period' beschreibt dabei den Lebensabschnitt auf dem sich Snowcat befindet. ‚Era' beschreibt das Farbthema, unter das Snowcat in dieser Zeit den Inhalt ihres Kleiderschranks gestellt hat. ‚Broadcast‘ fasst zusammen, was von dem per Drohne gedrehten Material dem Trideo-Zuschauer der Serie Snowcat and the Howling Shadows zur Verfügung gestellt wird und wann es gestreamt wird.

7. Einige der Namen, die in der Geschichte auftauchen, sind auch in der offiziellen Shadowrun-Welt ein Begriff. Ähnlichkeiten sind beabsichtigt. Allerdings kann das hier dargestellte Bild auch deutlich von dem Bild im SR-Kanon abweichen, da es unserer Spielwelt angepasst wurde.

8. KE, kurz für Knight Errant, ein Sicherheitskonzern und Tochter von Ares Marcotechnologies.

9. Teilweise stehen Dialoge in diesen « » Textzeichen. Die gesprochenen Worte werden dann vornehmlich via Teamnetzwerk oder Commlink verbreitet und sind für Wesen, die keine Mitglieder im Teamnetzwerk sind, nicht oder nur schwer zu hören. Ferner stehen in < > schriftliche Nachrichten und in ‹ › stehen Dialoge via Geistesverbindung, wie zum Beispiel die mit einem Geist unter Kontrolle, Gespräche via Mindlink oder Dragonspeech.

10. „AveRAGE“ hat seine Drohnen-Kamera-Einheiten, die je aus drei CU^3 bestehen, nach berühmten Kameramännern benannt.

11. Snowcat sieht die Geister, die einen Element zugeordnet sind als klassische Elementarwesen:  Luftgeister sind Sylphen, Erdgeister Gnome (früher Brownies), Feuergeister Salamander und Wassergeister sind Undinen. Jeder Geist, den sie beschwört, hat für sie zudem einen eigenen Namen. Guidance Spirits sieht Snowcat als weise Paten, die sie mit Godfather und Godmother betitelt. Guardian Spirits sind für sie Warden, Krieger verschiedener metamenschlicher Rassen. Die Warden tragen als Hommage an meine Lieblingsbuchsreihe, die Dresden Files von Jim Butcher, die Namen von den Warden des White Council. Spirits of Man sind für sie Leprechauns (Kobolde) und Task Spirits sind Brownies. Beast Spirits bekommen den Titel Master und Plant Spirits den Titel Mother (z.B. Master Wolf oder Mother Oak). 

12. Schlagwort(e), Überschrift(en) unter dem die Episode steht.

POSTED BY SNOWCAT

[Song 1: Lindsey Stirling feat Carah Faye — Where Do We Go3] Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander auf dem Dachaufbau und blickten in Richtung Hub. Dem Feuerschein nach zu urteilen verbrachten die Metamenschen der Bostoner Innenstadt wieder eine unruhige Nacht. Die, die in den Konzernenklaven lebten, würde das wahrscheinlich weitaus weniger interessieren. Die exterritorialen Gelände waren sicher schnell verbarrikadiert und abgeschirmt worden. So konnten ‚die von oben‘ zusehen, wie auf Straßenebene das Chaos tobte. 

Die Chancen, dass die Megakonzerne Shambler und mit Naniten Infizierte hatten rauswerfen und so draußen halten können, standen gar nicht mal so schlecht. Wenn sie zumachten, konnten sich die Konzernangestellten immer noch über die Skyways von Gebäude zu Gebäude bewegen, während unten die Shambler murrend auf eine Chance warteten, eindringen zu können. Vielleicht griffen die potenziellen Technomancer sogar regelmäßig an? Oder versuchten es zumindest? Vielleicht verabredeten sie sich auch über ein Netzwerk aus Living Personas, schmiedeten geheime Pläne und entwickelten unheimliche Strategien? Und vielleicht waren sie dabei beharrlich genug und würden damit irgendwann Erfolg haben? Die Gedanken ließen mich schaudern. Ehrlich gesagt fand ich die Idee, eine Konzernenklave würde von CFD-Erkrankten unbemerkt infiltriert werden, extrem gespenstisch. Doch wenn so etwas geschehen würde, würde es nicht unser Problem sein, so wie unser Leben nie das ihre sein würden - und sollte es aus irgendeinem Grund doch zu unserem Problem werden, dann würden wir eine Lösung finden. 

Wir waren und sind mehr als nur gut.

Wir sind die Howling Shadows!

Und ich bin ihre Anführerin!

Die Katze drehte sich auf meinem Schoß auf ihren Rücken, damit ich ihr den Bauch kraulen konnte. 

„Katzenfutter steht auf der Liste“, erklärte Liam und ließ seinen Blick dem meinen in die Ferne folgen. „Thunfisch haben wir keinen dabei. Doch die Katze sieht ja nicht verhungert aus“, fügte er hinzu.

„Tiernan findet etwas, was die Katze essen kann, bis wir welchen haben“, fand ich und streichelte dem Tier wie gefordert den Bauch.

Liam sah mich eine Zeit lang schweigend an. „Irgendwas ist anders!“, stellte er fest.

Ich wandte mich ihm zu und lächelte. Es war klar, dass er nicht die Situation in Boston meinte, sondern mich - und damit meinte er nicht, dass ich von CFD befallen war. Er hatte die Veränderung wahrscheinlich bereits bemerkt, als wir uns vor ein paar Tagen auf dem Compound wiedergesehen hatten. Natürlich hätte die Veränderung auch daran liegen können, dass mich die ganze Lockdown-Sache und die Sorge um meine Freunde so beschäftigte. Doch intuitiv ahnte Liam, dass das nicht die Ursache war. Wir kannten uns einfach schon so lange.

„Du musst mir nicht erklären, was los ist. Doch du solltest mit Finn darüber sprechen“, fügte er hinzu.

Ich nickte langsam. „Du hast recht. Das sollte ich tun. Ich war in den letzten Tagen so beschäftigt, doch jetzt ist genug Zeit dafür. Selbstverständlich ist das auch für deine Ohren bestimmt, du darfst also bleiben.“ Ich zwinkerte ihm mit langsamem Augenaufschlag zu und wollte gerade Shark Finn bitten, herzukommen, als Warden11 McCoy, mein Guardian Spirit, meldete: ‹MyLady, drei weitere Eurer metamenschlichen Krieger nähern sich.›

Da polterte es auch schon.

Fierce und Tiernan kamen nacheinander auf das Dach geflogen. Ich sage 'geflogen', weil Shark Finn sie von dem anderen Dach aus hier her geworfen hatte. Als nächstes sah ich, wie sich zwei Cyberhände und ein rotblonder Lockenkopf zeigten und der Fomori sich selbst auf den Sims zog.

Ich grinste. „Oder ich erzähle es euch gleich allen vier.“

Liam winkte die anderen O’Nialls zu uns hinauf und gab damit gleichzeitig das Zeichen, dass er sicher war, dass der Dachaufbau uns alle tragen würde. 

Unter einem Protestmauzen der Katze zog ich meine Beine zurück über die Kante, drehte mich sitzend um und ging, das Tier festhaltend, in den Schneidersitz. 

Die Katze stand auf, betrachtete die drei Neuankömmlinge der Reihe nach, schüttelte sich kurz, ließ sich dann wieder auf meinem Schoß nieder und schloss die Augen.

Alle O’Nialls waren bis an die Zähne bewaffnet. Wir setzten uns im Kreis zusammen.

Tiernan stellte eine Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit darin und fünf Becher, von denen einer deutlich größer war, in unserer Mitte ab. „Serene-Tea“, erklärte er und schenkte jedem von uns etwas von dem wohlschmeckenden, alkoholischen Getränk ein. 

Wir tranken einen Schluck, dann sahen mich meine Clansmitglieder offen und erwartungsvoll an. 

Ich begann ohne Umschweife. „Eine Weile, bevor das hier mit Boston und unserem Einsatz losging, habe ich einen neuen Weg gezeigt bekommen, Magie zu sehen und zu verstehen. Diese andere, spezifische Art, Magie zu wirken, lässt mich nicht nur vieles klarer sehen. Sie war auch eine Art Schlüssel zu der mir innewohnenden Macht, die von meiner Natur als Drake herrührt.“

Alles sahen mich aufmerksam an. Bei Tiernan und Liam zeichnete sich Erkenntnis in den Gesichtern ab. Fierce schien noch nicht ganz zu wissen, worum es ging, und Finn wartete weiter darauf, was das nun für ihn bedeutete.

„Mir ist klar geworden, wie viel Macht mit der Magie durch meinen Körper fließt. Ich möchte und werde nun mehr und öfter Magie einsetzen. Wenn nötig oder möglich werde ich zukünftig meine Drakegestalt annehmen.“

Liam nickte zufrieden. ‚Na endlich‘, schien er zu sagen.

Shark Finn behagte das Ganze noch nicht, das konnte ich spüren. Ich nahm seine große, starke Cyberhand zwischen meine Hände und sah ihm, zwangsweise von unten, tief in die Augen. „Du musst dich nicht sorgen! Einer meiner Geister wird mich stets bei einem Ausflug begleiten und ich werde nie unvorsichtig oder leichtsinnig sein. Auch nicht, wenn ich in meiner elfischen Gestalt vorausgehe.“ Ich lächelte warm und sprach etwas leiser weiter. „Und Finn, wenn wir als SatHS unterwegs sind, dann brauche ich dich jetzt, wo wir so berühmt sind, mehr denn je als meinen Bodyguard. Doch in einem Einsatz brauche ich dich an meiner Seite als jemanden, der mir den Rücken freihält.“

Finn nickte verständnisvoll. Seine schönen Augen wurden feucht vor Rührung. Er hatte erfasst, wie viel Vertrauen ich ihm damit entgegenbrachte. Ich drückte seine Hand, ließ sie dann los und blickte in die kleine Runde. „Der Weg ist noch so frisch, dass ich mich selbst noch nicht an die Veränderung gewöhnt habe. Mit Macht kommt Verantwortung. Ich bin bereit, sie zu tragen!“

Ich hatte mit keinem Wort gelogen. Ich hatte nicht einmal eine Halbwahrheit gesagt. Ich brauchte die Metamenschen an meiner Seite. Auch Finn, selbst wenn ich sehr gut auf mich selbst aufpassen konnte. Finn brauchte ich sogar ganz besonders. Er war für mich so viel mehr als nur ein Bodyguard. Er war mein Freund, mein Vertrauter und die Mahnung daran, nie wieder ein Rassist in irgendeiner Form zu sein. Vielleicht ist es fragwürdig, dass es einen auch von außen schönen Troll gebraucht hatte, um mich von den letzten Resten meiner Vorurteile zu heilen. Aber zum damaligen Zeitpunkt war es eben so gewesen. 

So überwältigend der Pfad für mich auch sein mochte, ich verspürte keinerlei Angst. Es war, als wenn ich erst mit Betreten dieses Weges meine erste Verwandlung in einen Drake vor nun mehr als fünf Jahren abgeschlossen hatte. 

Es war, wie mein weiser Mentor Ehran zu mir gesagt hatte: Eine logische Weiterentwicklung.

Natürlich wusste ich nicht, was die Zukunft für mich bereithalten würde. Wie sollte ich auch? Zukunft ist unbestimmt, denn jeder beeinflusst sie mit seinen Taten. Doch in mir lag mehr Potenzial als im Großteil der Metamenschheit. Ich würde all das so gut wie möglich zum Besten und Wohl vieler nutzen. Nicht zum Wohl aller, das vermochte niemand.

Liam hob seinen Becher. „Darauf trinke ich!“

Wir alle tranken darauf und leerten die Becher in einem Zug, wie es bei den O’Nialls üblich war. Die goldene Flüssigkeit ran warm und feurig meine Kehle hinunter.

„Tiernan, du bist und bleibst einfach unglaublich!“, lobte ich den Geschmack.

Tiernan freute sich über das Lob und schenkte nach.

Wir genossen den Moment zufrieden und tranken auch den zweiten Becher leer.

Ich sah zu Tiernan. „Ich bin noch nicht so richtig müde, was hältst du davon, wenn wir drinnen noch allen ein Schlaflied spielen?“

„Find ich gut!“, erwiderte Tiernan und stand auf.

Ich kraulte die Katze auf meinem Schoß kurz und stupste sie dann zart. „Hey, Kätzchen, wir gehen jetzt, aber wenn du uns begleitest, finden wir unten bestimmt noch etwas zu essen für dich.“

Die Katze kräuselte ihr Näschen und gähnte, sprang dann aber von meinem Schoß.

Bevor ich das Dach wechselte, kam Fierce zu mir und umarmte mich. „Ich freu mich für dich, Prinzessin. Und für mich freu ich mich auch, denn jetzt können’wa endlich 'nen richtigen Mädelsabend machen.“

Die Katze verschwand unterdessen durch die schief in den Angeln hängende Tür, durch die sie zuvor gekommen war. 

❄️❄️

[Song 2: Alice Merton - No Roots3] Duftend und strahlend schön erschien ich am nächsten Morgen um 8:30 Uhr zum Frühstücksmeeting. Die meisten anderen waren schon da und saßen am Tisch. Die Türen zum Studio waren offen und so konnte man aus dem Wohnbereich in das Bettenlager sehen. Ich war die einzige mit einem eigenen Zimmer. Das Privileg eines Anführers, und nur einer der Gründe, warum ich es so toll fand, ich zu sein.

Doc, im dreiteiligen Anzug und natürlich mit Hut, erhob sich, um mir in den Stuhl zu helfen. Womit er Tango nur einen Moment zuvor kam. 

Tango steckte das lächelnd weg. Das Lächeln sah bei ihm immer ein wenig böse aus, sein schuppiges Echsengesicht besaß keine richtigen Lippen. 

‹Kaffee?›, fragte Doc freundlich und wortlos, indem er nur seine Körpersprache nutzte. Dank einer Adeptenfähigkeit konnten wir komplette Unterhaltungen miteinander führen, ohne auch nur ein Wort auszusprechen.

„Ja danke, gerne!“, erwiderte ich laut ausgesprochen. 

Diesmal kam Tango ihm zuvor. Er war davon ausgegangen, dass ich Kaffee wollen würde und platzierte die Tasse mit dem duftenden Inhalt geschickt vor mir auf dem Tisch. Er hatte die Tasse mit seinem voll beweglichen Echsenschwanz getragen. Es war schon sehr praktisch eine dritte ‚Hand‘ zu haben.

Fierce sah noch ein bisschen zerzaust aus. Sie trug ein armfreies Shirt, eine Dreiviertel-Hawaiihose und Combatboots. Da das Shirt kurz war und die Hose tief saß, zeigte sie ein bisschen ihres trainierten, muskulösen Bauches. Pistole und Schlagstock hingen in einem Waffengürtel, den sie locker über den Hüften trug. Ihr Haar war noch feucht von der Dusche und sie hatte ein nasses Handtuch über die Schultern gelegt, das sie in Fangs Nähe urplötzlich abnahm, um es nach ihm zu werfen. 

Fang zögerte nicht lange, hob das Teil auf und warf es zurück, sprang im Anschluss in die Küche, kam mit einem Geschirrtuch wieder und warf es ebenfalls nach Fierce. Augenblicklich hatten die beiden eine kleine Handtuchschlacht begonnen. 

Eden - hatte sie überhaupt geschlafen? Sie schien mir irgendwie ständig wach zu sein - drückte mit einer Mikroexpression, die über ihr Gesicht huschte, ihr Missfallen ob des kindischen Gehabes aus. Die SEAL schrieb Ordnung in Großbuchstaben. Gleich nach unserer Ankunft hatte sie ihre Kiste aufgestellt, die Schuhe ordentlich aufgereiht und die Waffen griffbereit über das Bett gehängt. Was Fierce und Fang da machten, konnte bei Eden nicht auf Gegenliebe stoßen. Doch die hübsche Frau hatte in ihrer Vergangenheit schon genug Elend gesehen. Sie wusste, dass jeder das Leben auf seine Art genießen musste. Also lächelte sie und ließ den beiden ‚Kindsköpfen’ ihren Spaß.

Shark Finn trug ein Tablett mit Essen aus der Küche herein. Der Fomori war in Panzerweste, Jeans und Docks gekleidet und war selbstverständlich ebenfalls bewaffnet. Alle O’Nialls liefen hier in Boston durchweg bewaffnet herum. Die gesamte Zeit über. 

Fierce machte beim Anblick des Essens große Augen und zählte an ihren Fingern ab, wie viele wir waren. Shark Finn hob grinsend das Tablett über den Kopf, damit sie es nicht erreichen konnte. Als Ork war Fierce groß und kräftig, doch an einen Troll reichte sie nicht ran.

Fierce rief sofort nach Fang. „Schnell, komm her. Hilf mir. Du hängst dich an seinen Arm und machst dich schwer, dann kann ich uns was zu essen schnappen.“

Fang versuchte es, doch er konnte der Arm von Finn kein Stück bewegen. 

„Mann! Mach dich richtig schwer! - Schwe-her! - Schwer! - Versuchst du's überhaupt?“, schimpfte Fierce grinsend. 

„Klar!“, rechtfertigte sich Fang. „Der hat seinen Cyberarm bestimmt irgendwie arretiert, da bewegt sich gar nichts!“

Auch Fierce gab ihr bestes, aber Finn ging stur weiter durch den Raum. Er schleifte die beiden mit sich, als wögen sich nicht viel. Wenn er sich überhaupt anstrengte, verbarg er das prächtig.

Pfeifend und grinsend lief Tiernan - gekleidet in einen selbst gefertigten Kilt und ein Holzfällerhemd ohne Arm, beides in grün und schwarz, sowie schwarze Dr. Martins - mit einem vollen Tablett an ihnen vorbei. Die fehlenden Ärmel gaben den Blick auf seine Tattoos frei. Auf dem linken Arm schlängelten sich keltische Schlangen und über den rechten Arm rankten sich Ranken. 

Fierce entdeckte Tiernan mit seinem Tablett ein wenig zu spät, fluchte und ließ Finn los. „Fang, mehr Essen, da!“, rief sie noch. Sie versuchte förmlich, an das Tablett bei Tiernan zu springen. Doch als Tiernan die Pancakes vor mir und Doc abstellte, hielt sie im Sprung inne und meinte zu Fang, der gerade angelaufen kam: „Lass mal, die beiden sind so dünn, die essen das bestimmt nicht auf. - Aber mal ehrlich, du musst da besser werden, Fang! Wir müssen uns Futter schnappen, sonst fressen uns die anderen alles weg. Einige von denen haben schon trainiert heute Morgen.“ Ihr Blick huschte kurz zu Eden. „Und die Muckis müssen ja von irgendwo herkommen.“

Als letzter von uns kam Mr. Tea, stumm und ein wenig knurrig, zum Tisch. Er schlief gerne aus, und da war 8:30 Uhr natürlich noch zu früh für ihn. Selbstverständlich sah er dennoch aus wie aus dem Ei gepellt.

„Was für Spielzüge stehen denn heute an?“, wollte Fierce wissen, nachdem wir uns alle gesetzt hatten.

Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee. Er war stark und würzig. Dann nahm ich mir einen Pancake, und während ich echten Ahornsirup darüber goss, erklärte ich: „Fang und du arbeiten die Beschaffungsliste weiter ab. Eventuell fahrt ihr nicht allein. Das sehen wir noch.“

„Wir dürfen wieder fahren? - Cool!“, freute sich Fang.

„Ein Teil von euch wird mich auf unserer ersten Rettungsmission begleiten. Wir werden heute versuchen, meinen Freund Dave zu finden. Wir starten dort, wo er lebt, was in Chelsea ist.“ Ich rief die Karte via AR auf und markierte seinen Wohnort. "Das ist nicht weit von hier, nur sieben Kilometer, aber dafür müssen wir über den Mystic River. Der Rest von uns baut unser Lager weiter aus. Gibt es Freiwillige für die Mission Dave?“, fragte ich noch, bevor ich mir den ersten Bissen des fluffig weichen Pancakes gönnte.

Eden meldete sich sofort, und auch Doc wollte mich begleiten. Als Liam erklärte, dass Finn und er mit von der Partie sein würden, schloss ich die Gruppe. Ein zu großes Team wäre viel zu auffällig. Außerdem konnte man in kleinen Gruppen Geisterkräfte leichter einsetzen. Wenn alles lief wie ich hoffte, würden wir auf dem Rückweg eine Person mehr sein.

„Können wir uns irgendwie extra vor den Naniten schützen, wenn wir unterwegs sind?“, wollte Eden wissen.

„Gut, dass du es ansprichst,“, erwiderte Mash, der schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt, schwarze Schuhe und darüber einen grauen, gepanzerten Mantel trug, der wie ein Arztkittel geschnitten war. Der Kittel war unverkennbar die Arbeit von Tiernan und Liam. „Wir sollten zumindest jeden, der rausgeht, unter einen Healthy-Glow-Zauber stellen. Das fördert das Wohlgefühl, ist hygienisch, falls etwas passiert, verhindert Infektionen durch Dreck, und als Bonus kommt das frische Aussehen gut bei sozialen Interaktionen an.“

Ich schmunzelte zufrieden - wegen des himmlischen Geschmacks des Pancakes. Mash hatte natürlich recht. Ich selbst hatte mir nach der Dusche einen Healthy Glow und noch dazu einen Make-Over-Zauber gegönnt. Die Dusche davor hätte ich selbstverständlich auch weglassen können, aber ich duschte einfach gern und noch war Wasser kein Problem. „Das ist eine sehr gute Idee, Mash. Das sollten wir zu unserem Morgenritual für jeden machen. All deine Punkte sind richtig. Außerdem sparen wir so jede Menge Frischwasser, da das Duschen und jegliche andere Reinigung am Morgen hinfällig wird.“ Ich grinste innerlich. Wer das Duschen nicht so liebte, konnte ja schon mal mit dem Wassersparen anfangen.

❄️

Nach dem Frühstück ging ich zu Fang, tat ein wenig verschwörerisch und bat ihn charmant, bei seiner Erkundungstour nach Champagner Ausschau zu halten. 

Er erklärte sich sofort bereit dazu.

Champagner war immer eine gute Idee - und schließlich hatten wir auch Whisky und jede Menge Kaffee auf die Liste gesetzt. 

Liam fing Eden ab, als sie aus der Küche kam. „Sag mal, Eden, wo ist deine Waffe?“ 

Eden deutete mit dem Kopf nach hinten. „Hängt an der Wand über dem Bett!“ 

Liam zog geschwind und dennoch gelassen seine Pistole und meinte böse lächelnd: „Na, dann zeig mal, wie schnell du bist!“ 

Eden ging gedanklich ihre Optionen durch. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie Liam entwaffnen konnte oder ob ihr ein anderer Trick einfiel. Natürlich erkannte sie, dass sie gegen eine Kugel keine Chance hatte, egal, wie schnell sie war. In ihrem Gesicht stand nun deutlich geschrieben, wie sehr sie der Fehler ärgerte. „Du hast recht, wir sind hier in einem ungesicherten Gebiet. Ich hole meine Waffe. Das wird nicht wieder vorkommen.“

Liam nickte und steckte seine Pistole wieder weg.

„Du brauchst gar nicht so zu grinsen!“, fauchte Liam Fang an. „Wo ist deine Waffe?“ 

Fang deutete lachend auf Fierce. „Sie ist meine Waffe!“

Fierce zog die Augenbrauen zusammen. „Wie, ich bin deine Waffe? Du bist nicht bewaffnet? Nee, echt mal, wo ist deine Waffe?“ 

Fang grinste weiter. „Naaa, du bist meine Waffe!“ 

Fierce schüttelte den Kopf. „Aber wir können jederzeit überfallen werden, dann bist du nicht bereit!“

Fang winkte ab. „Du bist so schnell, da kann mir keiner was.“

Liams Gesichtsausdruck war immer ernster geworden, er sah zu Fierce. „Was immer ihr macht, er fährt heute nicht mit dir!“

Fierce öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch Liam brauste auf. „Er fährt heute nicht bei dir mit!“

„Okay“, die Orkin nickte, zog dann Fang beiseite und flüsterte: „Lass uns mal ein Stück weiter gehen. Er hat nur 'heute' gesagt.“

Fang schmollte. „Was ist denn sein Problem? Warum darf ich denn jetzt nicht bei dir mitfahren? Wir sind doch ein Team!“

„Du sollst nicht darauf bestehen, dass ich dich beschütze. Wir sollen uns gegenseitig beschützen, aber beide vorbereitet sein. Wir fahren heute auf zwei Bikes, damit dein Quatsch mich nicht gefährdet. Wir passen natürlich trotzdem aufeinander auf. Und nun hol dir 'ne Waffe und trag die auch hier im Safehouse. Man kann nie wissen, was kommt!“

AveRAGE war bei Beginn der Diskussion kurz in den Schlafraum verschwunden und kehrte nun bewaffnet zurück. „Wieso ist Fierce dein Bodyguard?“, goss er Öl ins zum Glück bereits erloschene Feuer. Er hatte sich die Pistole locker vorne in den Hosenbund gesteckt. 

Fierce machte große Augen. Eden schüttelte milde dem Kopf. 

Liam griente. „Wenn du dir die Eier abschießt, ist's mir egal.“

Mash blickte um die Ecke. „Aber mir nicht!“, rief er und sah irgendwie sehr edel dabei aus.

Fang zuckte mit den Schultern. „Ach, das ist dann Darwin!“ 

„Genau! Darwin! Vielleicht repariert es Mash ja besser nicht“, bekräftigte Fierce Fang.

Liam meinte überzeugt: „Mit hoher Stimme ist Average unerträglich, Mash repariert es!“

Sinister fragte: „Hast du kein Holster, Average?“

„Doch schon, aber das drückt dann immer so.“

Liam ging an seine Taschen und kam mit einem Trageriemen wieder. „Hier, dann kannst du sie vor dem Bauch hängen lassen, dann drückt nix!“, erklärte er.

AveRAGE freute sich. „Oh, danke, und der ist nicht mal pink.“ 

„Pink hat Bubbles!“, stellte Tiernan fest.

Ich freute mich ebenfalls. Liam war ein Guter - und meine Vorliebe für AveRAGE färbte langsam auf einige ab.

❄️❄️

[Song 3: Trevor Rabin, Paul Linford /12 Monkeys Theme Song - I Am The Clock3] Ich hatte Warden11 Luccio gerufen, damit er uns bei Bedarf Beistand leisten konnte. An meinem weißen Rucksack, der ganz hervorragend zu meinem weißen Catsuit passte - kein Wunder, war er doch von demselben Mann entworfen worden - steckte ein Baseballschläger. Ich hatte mir das Sportgerät gestern extra von Fang und Fierce besorgen lassen. Guardian Spirits verstehen sich ganz hervorragend auf die Nutzung von Waffen jeglicher Art, und sollte Warden Luccio diesbezüglich gefragt sein, war ich nun vorbereitet. Auch sonst war ich gut drauf. Es versprach ein nicht allzu heißer Sommertag zu werden, ein leichter Wind wehte, ich hatte einen starken Deflection-Spruch in den Zauberspeicher an meinem Strumpfband geladen und nun würde ich mit vier meiner Kollegen losziehen, um meinen guten Freund Dave zu suchen. Mein Haar war nur leicht zurückgesteckt und die weißen Ankle Boots waren frisch geputzt.

Doc trug einen Synergyst Business Line Long Coat über einem stahlgrauen Sleeping Tiger Anzug, einen passenden Hut und geputztes, farblich darauf abgestimmtes Schuhwerk. 

Liam und Eden sah man auf den ersten Blick nicht an, wie stark sie gepanzert waren. Die Einzelteile passten zusammen, wirkten aber eher wie aus einem gut sortierten Kleiderschrank zusammengestellt als wie eine zusammen gekaufte Einheit. Nach dem Missgeschick heute Morgen war Eden mit Liam ihre Bewaffnung noch einmal durchgegangen. Für sie mochte dies hier kein normaler Auftrag sein, dennoch trat sie mit jedem Schritt sicherer auf. Ein Einsatz, eine Mission, das war einfach ihr Ding. 

Shark Finn hatte sich für sein übliches ‚Straßenoutfit’ bestehend aus einer Armeehose, Docks und Panzerweste entschieden. Heute hatte er über die Weste noch ein Shirt der Boston Massacre gezogen. Mit dem Sportshirt einer lokalen Mannschaft würde er sich allein dafür bei den Bostonern Freunde machen, so verrückt, wie hier alle nach lokalen Sportteams waren.

Drei Kameradrohnen wuselten auf Autopilot um uns herum. Auch, wenn die Verbindung dank der Grids einiger Megakonzerne jetzt besser war, war sie immer noch weit davon entfernt, zu hundert Prozent zuverlässig zu sein. Zudem waren die störenden Hintergrundgeräusche weiterhin ziemlich stark. AveRAGE die Drohnen steuern zu lassen, wäre Verschwendung von Ressourcen gewesen. Metamenschlichen Ressourcen. Abgesehen davon wirkten Autokameras dokumentarischer und spontaner. In den Szenen, in denen die Kameraführung wichtig war, wie gleich bei meiner Ansprache an die Zuschauer, konnte Liam immer noch in die Kamera springen. 

❄️

Ich sah Liam fragend an.

Er sah fragend zurück.

„Und?“, wollte ich wissen.

„Und was?“

Ich lachte perlend. „Ist der Take gut geworden?“

„Ach so, ja, klar! Die Zuschauer lieben dich eh. Egal, ob der Hintergrund gut rauskommt oder nicht. Average macht den Rest schon hübsch. Dafür ist er ja da!“

Liam beendete die Verbindung zur Kameradrohne, und die kleine CU^3 flog wieder in die Standardformation zurück.

Ich lächelte in die Runde. „Bevor wir uns auf den eigentlichen Weg machen, möchte ich uns noch mit einem Mindlink-Zauber verbinden. Damit entsteht eine Gedankenverbindung zwischen uns. Wir können damit kommunizieren, ohne dass uns jemand zuhören oder abhören kann, und sind außerdem nicht mehr davon abhängig, dass ein Grid funktioniert. Außerdem können wir uns so komplette Bilder gedanklich hin und her schicken. Hat jemand etwas gegen den Zauber einzuwenden?“

Drei meiner Leute waren offenbar problemlos einverstanden. Liam und Shark Finn wirkten sogar erfreut. Na, und aus Doc wurde selbst ich nicht schlau, wenn er das nicht wollte. 

Eden hingegen zog die Stirn kraus. Der Gedanke, mental zu kommunizieren, war ihr offenbar unheimlich.

„Keine Sorge“, beschwichtigte ich. „Niemand kann dann die Gedanken eines anderen lesen. Die Kommunikation ist willentlich. Mit ein bisschen Übung ist es wie beim Sprechen. Entweder, man denkt etwas ‚laut‘, oder eben nicht.“

Nun nickte auch Eden, und ich sprach den Zauber. ‹So, fertig!›9, erklärte ich und kommunizierte sogleich über die frische Verbindung. ‹Der einzige Unterschied zum Commlink besteht darin, dass man keinen Direktkanal zu jemandem öffnen kann. Konzentriert euch einfach darauf, auf meine Worte tonlos zu antworten. Dann habt ihr den Kanal gefunden. Und nicht durcheinander reden, das ist wichtig!›

Liam meldete sich sofort, dann folgten Finn und Doc. Eden zögerte einen Moment, doch dann tauchte ein Bild in meinem Bewusstsein auf, welches sie geschickt hatte.

‹Ganz hervorragend!›, lobte ich.

„Wir sollten alle unsere Respirators tragen“, schlug Doc vor. „Dann ist ein zweiter Blick nötig, um uns zu erkennen. Abgesehen davon stellen sie einen zusätzlichen Schutz vor den Naniten dar.“

„Was ist mit den ballistischen Masken?“, fragte Liam.

„Wer will, kann sie aufsetzen. Ansonsten heben wir sie uns für später auf“, erklär†e ich.

Teamnetzwerk, Mindlink-Zauber und eine lockere Formation, die relativ enges Zusammengehen beinhaltete, da konnte zumindest was die Kommunikation anging gar nichts mehr schiefgehen.

Nach wenigen Schritten sprach ich Liam mit Dragonspeech an, auch wenn ich die für den metamenschlichen Körper ungewohnte Magie in dieser Gestalt wie einen Zauber entziehen musste. Das war es mir wert. ‹Knackiger Hintern! Du solltest öfter vorgehen!›

Liam lachte kurz und schüttelte belustigt den Kopf.

❄️

Das Bild, welches sich uns bot, war dem von unserer Ankunft gestern ähnlich. Die Sonne schien. Die Straßen waren ungewöhnlich leer, auch wenn das in einer Wohngegend weniger auffiel. Die Autos waren ordentlich geparkt. Friedlich und harmlos. Nur wusste das Unterbewusstsein eben ganz genau, dass es so nicht sein sollte. Kinder sollten sich auf dem Schulweg befinden, Blumen gegossen werden und die Bewegung hinter den Fenstern sollte sich nicht auf schnelles In-Deckung-Gehen beschränken.

Es waren sogar hier und da Leute auf der Straße, die bewaffnet in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten. Wir umgingen sie ebenso wie die erste Straßensperre, die wir etwas weiter hinten entdeckten. Sie hatte sowieso nicht auf unserem direkten Weg gelegen. 

Als die Bebauung etwas höher und die Lage dadurch unübersichtlicher wurde, meinte Liam in Richtung von Shark Finn und Eden: „Klettert doch mal da hoch, dann habt ihr 'ne bessere Aussicht.“

Shark Finn warf einen skeptischen Blick nach oben. „Sieht mir nicht trollsicher aus“, meinte er.

Da hatte Eden bereits bestätigt, ihr Kletterzeug angelegt und die Kletterpistole herausgeholt. Sie schoss den Enterhaken geschickt auf das Dach des fünfstöckigen Gebäudes, kletterte und ließ sich hochziehen. Auch das musste man erst mal können. 

Ich lehnte mich wartend an die Hauswand, holte einen Fächer aus meiner Handtasche und fächerte mir Luft zu. Die Kühlfunktion eines Fächers im Sommer ist in meinen Augen ein deutlich unterschätzter Fakt.

Es dauerte nicht lange, dann sandte uns Eden eine Reihe von Bildern via Mindlink. Natürlich hätte sie auch das Commlink nutzen können, die Verbindung wäre durchaus gut genug gewesen. Doch mit dem Wissen um Naniten und frisch geborene Technomancer findet man Gedankenkommunikation ziemlich attraktiv.

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Edens Aufstieg brachte folgende Erkenntnisse: Auf der Autobahn fuhren Knight Errant-Patrouillen. In Charleston gab es diesseits des Flusses geschwärzte Autos, glimmende Feuer und Tote, die vor sich hin kokelnd auf der Straße lagen. Der Kordon Richtung Hub war abgeriegelt und an den Straßen waren Kontrollpunkte aufgestellt worden. Rechnete man das hoch, waren höchstwahrscheinlich sämtliche Zugänge in die hochgefährdete Zone gesperrt worden. In vielen Fällen hatten sie dafür nur die Brücken schließen und davor Gardisten oder Polizisten stellen müssen.

Auch die nächste Straßenbrücke in unsere Reichweite war gesperrt und bewacht durch KE8. Wir ersannen einen Weg, der uns eine Hauptstraße entlang an einem Home Depot vorbei und unter der Autobahn hindurchführen würde. Den Fluss beabsichtigten wir via einer Eisenbahnbrücke zu überqueren. Der Vorschlag war von Eden gekommen. Ich fand ihre Vermutung naheliegend, dass dort mit weniger Patrouillen und Überwachung zu rechnen war. 

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Die Hauptstraße war metamenschenleer. Es blieb gespenstisch. 

Unvorstellbar gespenstisch. 

Mein Unterbewusstsein schrie mir die ganze Zeit zu, dass das hier ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. An einem normalen Tag würde sich hier eine Blechlawine von Fahrzeugen ergießen, es gäbe ein Hin und Her von Autos an der Einfahrt auf dem Parkplatz, und die automatischen Türen des Home-Depot-Store würden sich regelmäßig öffnen und schließen. 

Doch nun liefen wir völlig allein in der Vormittagssonne unter strahlend blauem Himmel am Rand der Straße entlang, die ziemlich weitläufig wirkte, da GridGuide die verbliebenen Fahrzeuge zum Parkplatz von Home Depot gefahren hatte. Ich fragte mich unwillkürlich, wie und ob die Metamenschen darin es wohl sicher nach Hause geschafft hatten. Ich konnte sehen, dass einige Wagen noch mit Einkäufen beladen waren. Ein in eine Folie verpackter Stoffhase lag dicht bei der Hintertür eines Wagens. 

Die Paranoia warnte mich. Ich analysierte die Lage und entschied, dass Situation und Ort für eine Falle ungeeignet waren. Außerdem gab es keine Flüssigkeit, die die Naniten hätte am Leben erhalten können. Also hob ich das Päckchen auf, befreite den knuffigen Hasen aus der Verpackung und verstaute ihn in meinem Rucksack. 

Als ich mich wieder aus der Hocke erhob, entdeckte ich gut ein Dutzend Shambler, die in einer leicht schwankenden Gruppe beisammen standen. Wenn wir unserem Weg folgen wollten, mussten wir ziemlich dicht an ihnen vorbei.

‹Wartet bitte kurz!›, sagte ich via Mindlink an. ‹Da stehen Shambler. Ich locke sie mit einer Illusion von uns weg.›

Ich konzentrierte mich kurz, formte die Fäden der Magie nach meinem Willen und ließ weiter entfernt eine illusionäre Gruppe von Metamenschen entstehen, die geräuschvoll die Straße entlang kamen, die Shambler entdeckten und wegrannten. 

Das Manöver gelang. Die Shambler folgten der Illusion.

Im Anschluss ließ ich uns durch Warden Luccio verschleiern, und wir konnten ungehindert unseren Weg fortsetzen.

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Die Eisenbahnbrücke hing flach über dem Fluss. So brauchte es von der Straße nur ein paar Schritte die Trasse hoch, um auf das Gleisbett zu gelangen.

Doc kletterte vor mir hoch und reichte mir eine Hand, damit ich es leichter hatte. Liam grinste, doch ich stand nun mal auf solche Dinge und ließ mir gerne hinaufhelfen. 

Wir liefen mittig die Schienen entlang, schon allein, damit das aufspritzende Flusswasser nicht meine Schuhe ruinierte. 

Eden entdeckte an der Schleuse ein paar Meter den Fluss hinab KE-Drohnen, die dort patrouillierten. Sowohl in der Luft als auch im Wasser.

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[Song 4: Hans Zimmer & Benjamin Wallfisch /Blade Runner 2049 - Sapper’s Tree3] Auf der anderen Seite des Mystic River erwartete uns dann die schlimmere Situation, die wir zuvor bereits aus der Ferne gesehen hatten.

Tote lagen auf den Straßen, teilweise hatten man sie angezündet. Sie kokelten vor sich hin. Der Gestank war widerwärtig, also schaltete ich die Filter des Breezers zu. Die Toten zu verbrennen sollte bestimmt der Eindämmung der Krankheit dienen. Überall gab es Brandspuren. Sicher hatte man sich mit Feuer gegen Angreifer zur Wehr gesetzt, aber vielleicht hatten die Shambler sogar versucht, sich mit Hilfe von Feuer irgendwo Zugang zu verschaffen. 

So gut wie alle Geschäfte einer kleinen Mall waren beschädigt und geplündert worden. Verübeln konnte ich es den Metamenschen nicht.

Wir gingen wortlos und leise durch die Straßen und das, obwohl wir verschleiert waren. Wir achteten verstärkt auf Heimlichkeit, je näher wir der Wohngegend mit den eigentlich so beschaulichen Häusern kamen. Ich hoffte mit jedem Schritt, es würde etwas besser werden, bis wir zu dem Viertel kamen, in dem Dave lebte. 

Die herumliegenden Leichen jagten mir einen unheimlichen Schauer nach dem anderen den Rücken entlang - und ich bin sicher weit davon entfernt, zimperlich zu sein. 

Tote Metamenschen vor getünchten Gartenzäunen, das war einfach nur gruselig. Die meisten Opfer waren erschlagen worden. Blut trocknete auf hellgrauen Pflastersteinen.

Sieben große Krähen picken an einer Leiche herum, die rücklings in einer Einfahrt lag. Der Schädel des menschlichen Mannes war geplatzt. Die Vögel hatten sich an seiner Hirnmasse gütlich getan. 

Plötzlich blickte eine der Krähen auf …

… und dann sahen sie alle gleichzeitig in unsere Richtung.

Doch wie bei allen Drachen der Sechsten Welt hatten sie uns entdecken können, wo uns doch Warden Luccio vor allen Sinnen verbarg? Selbstverständlich war mir klar, dass solche Geisterkräfte nicht unfehlbar sind. Doch im Allgemeinen ist es keine leichte Sache, jemanden zu bemerken, der verschleiert ist. Zumal wir gegen den Wind gekommen waren. Ich hätte in dem Moment schwören können, dass sie uns direkt ansahen. 

Wenn sie uns irgendwie entdeckt hatten, war der ‚Zauber‘ gebrochen. Was dann auch bedeutete, dass die Krähen uns nun problemlos sehen konnten.

Ich verlagerte meine Wahrnehmung in den Astralraum. Kein Zweifel, die Vögel waren infiziert. 

Der erste bewegte kaum merklich seine Flügel. 

Ich zögerte nicht länger. ‹Die sind infiziert!›, sagte ich noch schnell über unsere Geistesverbindung an, und dann zauberte ich auch schon. 

Die Lufttemperatur bei den Krähen sank rapide. Ihre Federn gefroren und sie erstarrten buchstäblich in der Bewegung. Die anderen aus dem Team hatten noch nicht einmal ihre Waffen gezogen.

Jedenfalls die meisten nicht, denn zumindest Doc hielt je eine Pistole in den Händen, die lautlos dorthin gelangt war. Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Bewegung dazu registriert. 

‹Sie sind nicht tot!›, sagte ich an. ‹Erledigt das bittet jemand!›

Shark Finn nickte, trat vor, fuhr einen Speer aus einem handlichen Stab aus und spießte sie der Reihe nach auf. 

Da die Vögel nicht wirklich zu Eis gefroren waren, zerplatzen sie leider auch nicht. Schade, denn das hätte sich im Trid sicher gut gemacht. Vielleicht war es eine gute Idee, den Effekt nachträglich einzubauen. Ich setzte eine geistige Notiz, denn ich würde das später noch mit AveRAGE besprechen.

Finn trennte jedem Vogel mit seinem Stoß den Kopf ab. Einer rollte ein wenig hin und her, und für einen Moment glaubte ich, das Vogelauge würde mir zuzwinkern.  

Ich schüttelte den Grusel ab und sagte stattdessen an: ‹Ich habe keine Ahnung, wie sie uns so leicht entdecken konnten. Die Tatsache, dass auch diese Form von CFD Tiere befallen kann, sollten wir an unser Team bei Tango kommunizieren.›

‹Ich bereite eine Nachricht vor›, versprach Liam, ‹gerade habe ich kein Netz. Was das Entdecken angeht, da könnte ich mir vorstellen, dass die die Signale unserer Commlinks bemerkt haben. ›

Eden schüttelte sich kurz.

„Da wir das jetzt wissen, sollten wir in den Hidden-Modus unserer Commlinks gehen“, sagte ich halblaut. Auch wenn wir durch das Noise via AR nicht so weit zu sehen sind, müssen wir die Shambler ja nicht unnötig auf uns aufmerksam machen. Berichte bitte auch das an die anderen, Liam!“

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[Song 5: Kaleo - Way Down We Go3] Als wir uns Daves Wohnsiedlung endgültig näherten, hob ich die Verschleierung durch meinen Guardian Spirit wieder auf. Es war keine gute Idee, lange unsichtbar umherzulaufen, wenn noch andere Metamenschen im Spiel waren. Diese Lektion hatte ich durch den Tod von Cannonball schmerzhaft gelernt und ich würde sie nie vergessen. 

Mir schwante nichts Gutes, als wir Clinton Ecke Summer Street erreichten. Dort gab es ein Navy-Krankenhaus, oder hatte es zumindest einmal gegeben. Zweifelsohne hatte hier ein Ausbruch stattgefunden. Das Krankenhaus schien soweit wir das beurteilen konnten das reine Chaos zu sein. Doch auch ringsherum gab es nur eingetretene Türen, ausgebrannte Häuser und Leichen, die herumlagen. Teilweise hatte man sie auch hier zu einem Haufen zusammengetragen und mit dem brennbaren Material übergossen, das man hatte finden können. Ich sah einen achtlos beiseite geworfenen Kanister. Der TAG flackerte bereits. ‚Treibstoff für den Gartenmeister, hochentzündlich‘, stand darauf zu lesen. Ich lachte bitter. Wer auch immer das da hin geworfen hatte, er würde sich sicher noch ärgern, das bisschen Brennstoff für seine Rasenmäherdrohne für das Verbrennen von Leichen genutzt zu haben. Doch zumindest hatte jemand versucht, etwas zu unternehmen und die Straßen zu säubern.

Ich hoffte inständig, dass Dave nicht kurz vor dem Ausbruch versucht hatte, im Navy-Krankenhaus mit Heilmagie zu helfen. 

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Eden deutete in dem Himmel. „Ich glaub, da kommen Supply Drops geflogen.“

„Aber landen werden sie nicht hier in der Gegend!“, stellte Shark Finn ruhig fest.

Ich sah nach oben. „Stimmt!“, bestätigte ich. „Zumindest eine der Paletten sollte das aber. Es sieht so aus, als wenn hier und dort jemand nach dem Ausbruch aufgeräumt hat. Der hat sicher auch Hunger.“ Ich sah zu Liam. „Kannst du bitte eine Ladung hacken und hier in der Siedlung landen lassen?“

Liam nickte. „Besser gehts mit zwei.“

„Nimm drei!“, forderte Doc. „Ein Teil der Einfamilienhäuser sieht unbeschädigt aus. Sie wurden erst kürzlich so gut es ging befestigt.“ 

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Gleich drei Paletten zu hacken und sie direkt auf der Kreuzung uns voraus landen zu lassen, war für Liam kein Problem. Abgesehen davon, dass es dieser Siedlung nützen würde, war es der beste Weg, sie alle aus ihren Häusern zu locken.

Es dauerte nicht lange, dann kamen sie an. 

Nachbarn, vielleicht sogar Freunde, die sich in einer Gruppe zusammentaten und noch die Zeit hatten, einander zaghaft zu begrüßen.

Selbstverständlich würden wir auch diesmal für eine gerechte Verteilung der Hilfsgüter sorgen. 

Insgesamt zählte ich gut 30 Personen. Die meisten von ihnen waren Menschen mittleren Alters. Zwei von ihnen hatten Naniten im Körper, doch sie waren keine Technomancer. Die Naniten konnten vielerlei Ursache haben. Dennoch markierte ich die zwei im Teamnetzwerk als gefährdet. Es gab ein älteres Ehepaar und eine Mutter mit einem Kleinkind, die sich offenbar besser kannten und dicht beieinander standen, meiner Meinung nach aber nicht verwandt waren. Außerdem gab es zwei männliche Menschen im Teenageralter. Einer von ihnen schlug dem anderen den Ellenbogen in die Seite, kaum, dass sie näher getreten waren.  

Die Nachbarschaft hatte kein Problem damit, dass jemand die Verteilung von Supplies übernahm. Im Gegenteil. 

Eden und Doc hatten sich, die Waffen bereit, vor mir aufgestellt. Ich war wieder auf eine der Kisten gestiegen und Liam und Shark Finn übernahmen das mit der Verteilung an sich, wobei wir sie bei der überschaubaren Menge mehr selber nehmen ließen und darauf achteten, dass niemand hamsterte. 

Die beiden Jugendlichen halfen nach Kräften und spielten dabei mit ihren noch nicht völlig ausgereiften Muskeln. „Können wir sonst noch was tun, Snowcat?“, platze es irgendwann aus einem heraus. 

Ich lächelte charmant. „Macht einfach weiter so und achtet aufeinander. Und im Moment könntest du deinen Vorteil ausgleichen und mir eure Namen verraten.“ 

Das taten sie nur allzu gern, jedenfalls, nachdem sie entschlüsselt hatten, was ich von ihnen wollte.

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Bevor Brian und Jason mit ihren Gütern eilig abgezogen waren, hatten ich für jeden von ihnen ein Taschentuch aus dem Ärmel gezogen und signiert. Ein Selfie hatte Shark Finn nicht erlaubt und ich hatte ihnen auch gar keines geben wollen. 

Die Frau mit dem Kleinkind wandte sich währenddessen leise an Eden. „Sie sind wirklich von den Howling Shadows?“, wollte sie wissen.

Eden bestätigte freundlich lächelnd, und dies obwohl sie aufgrund der unübersichtlichen Situation angespannt war. 

„Können Sie vielleicht mein Kind in Sicherheit bringen?“, fragte die Frau als nächstes und hob das kleine menschliche Mädchen flehend in meine Richtung. 

Für einen Moment schloss ich die Augen und schluckte schwer. Innerlich natürlich. 

Nach außen hin lächelte ich warmherzig und holte zuallererst den Plüschhasen aus dem Rucksack, um ihm dem Mädchen zu schenken. Dabei signalisierte ich Doc nonverbal, sie sollten bis auf Mutter, Kind und älteres Ehepaar alle anderen freundlich aber bestimmt wegschicken.

Natürlich war mir klar, dass ich mit dem Plüschhasen weder für Sicherheit sorgte noch irgendjemanden rettete. Der Stoffhase hatte das Kind zum Lächeln gebracht und das war schon mal ein guter Anfang. „Wir werden gleich sehen, was wir tun können. Warten Sie bitte noch einen Moment“, erklärte ich. Zum Glück zeigte die Kleine ihrer Mutter stolz das Geschenk und diese nahm ihr Kind intuitiv in ihren Arm zurück. Natürlich stand fest, dass wir Mutter und Kind nicht einfach trennen würden. Solange wir nicht wussten, was mit Dave war und wo er sich befand, konnten wir sie auch nicht einfach beide mitnehmen. 

„Wissen Sie vielleicht, was in Fenway Park los war?“, fragte die Frau jetzt.

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht, wir wissen auch nur das spärliche, was aus den Nachrichten zu entnehmen war.“

Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. „Mein Mann war beim Spiel. Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört.“

Verständlicherweise brachen die Tränen gleich darauf aus und sie hielt mir erneut ihre Tochter entgegen. In Liam, Finn und Eden kam etwas Unruhe auf. Auch sie wussten, dass wir das Kind nicht mitnehmen konnten, doch die Szene war herzerweichend.

Ich beschloss, dass ein Healthy Glow nun genau der richtige Zauber sei. Sauber und erfrischt fühlt man sich einfach besser. „Ihr Kind fühlt sich bei Ihnen geborgen", sagte ich sanft. Dann berührte ich die Frau zart am Arm, natürlich mit behandschuhter Hand, und zauberte. „Keine Sorge, wie kümmern uns um Sie!“, versprach ich.

Mit dem Zauber kehrten Farbe und Hoffnung in das Gesicht der Frau zurück. Ich wiederholte den Spruch bei dem Mädchen und dem älteren Ehepaar, das sich der Frau offenbar angenommen hatte. Dabei erfragte ich ihre Namen und sprach beruhigend auf sie ein. 

Carol Sanders, ihre Tochter Mary Jane und John und Eliza Jefferson waren ergriffen und überaus dankbar für unsere Hilfe. Ich sagte an, dass wir sie jetzt erst mal zu den Jeffersons nach Hause geleiten würden, schon allein, damit niemand versuchen konnte, ihnen die Güter wieder abzunehmen. Finn nahm ihnen die Kiste mit Lebensmitteln und auch das sonstige Gepäck ab. „Ich trag das schon“, erklärte er.  

„Aber das ist doch schwer, Junge!“, protestierte Mrs. Jefferson und rührte damit zu Tränen.

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Im Haus der Jefferson angekommen halfen wir ihnen beim Verstauen und sicherten mit ihnen das Haus gegen Eindringlinge. Hier war dann auch Eden wieder in ihrem Element, froh, vorhandenes Wissen und Können weitergeben zu können.

Ich versprach, einen sicheren Platz für sie alle vier zu finden und dann wiederzukommen. 

Die gesamte Aktion hatte uns gut zwei Stunden gekostet. Doch was waren schon zwei Stunden?

Dave hatte sich leider nicht bei den Supplies blicken lassen. Darauf hatte ich irgendwie gehofft.

„Kommen wir wirklich wieder?“, fragte Eden, als wir uns von dem Haus entfernten.

Ich nickte. „Ja, das tun wir!“, bestätigte ich. „Spätestens, wenn wir Dave gefunden haben und zu Tango zurückgehen.“ 

Eden fiel ein Stein vom Herzen.

Liam schüttelte dem Kopf. „Wenn wir jeden mitnehmen, müssen wir anbauen.“

Ich zwinkerte ihm zu, wohl wissend, dass er diese Aussage halbherzig gemacht hatte. Er wollte schließlich auch helfen. „Wir nehmen ja nicht jeden mit“, scherzte ich. „Und wenn jemand aus dem Nichts ein ganzes Haus anbauen kann, dann Tiernan und du!“

Nein, wir konnten nicht alle retten, aber ich konnte die retten, die mir im richtigen Moment über den Weg liefen.

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[Song 6: Kyle Dixon & Michael Stein/ Stranger Things 2- The Return3] Für einen kurzen Moment schnürte sich mir die Kehle zu, als wir uns Daves Adresse näherten und die Kampfspuren schon vor der Haustür zu erkennen waren. Auch hier hatte es gebrannt. 

Ich riskierte einen astralen Blick. Magische Abdrücke waren keine mehr vorhanden - was immer hier passiert war, es war mehr als acht Stunden her. Doch das war ja auch zu erwarten gewesen. 

Die Brandspuren identifizierte ich als Spuren eines Feuerelementars, und das sprach doch schon mal dafür, dass Dave sich gewehrt hatte. Eine Tatsache, die mich zumindest etwas beruhigte.

Wir drangen kontrolliert und erprobt ein und durchsuchten das kleine, aber komfortable Haus. 

Es war metamenschenleer.

Die Hintertür stand offen. Spuren führten über den Garten weg. 

Auch das Gartenhäuschen war leer, aber den Versuch war es zumindest wert gewesen. 

Doc sah sich ein paar Minuten in Ruhe um und erklärte dann: „Das Haus wurde angegriffen, Dave hat schnell etwas zusammengepackt und ist dann nach hinten raus geflohen, während ihm sein Feuerelementar vorne die Zeit erkauft hat.“

Okay, so weit, so gut!

Ich hatte Dave mehrmals auf den AB gesprochen. Wenn er nicht völlig hektisch oder von der Rolle gewesen war, hatte er mir irgendeine Nachricht dagelassen. Vorausgesetzt natürlich, dass er meine Voicemails abgehört hatte.

Mein erster Blick fiel an das Memo-Board in der Küche. Doch das Display war ausgeschaltet und auch als ich anmachte, fand ich nur einen Einkaufszettel.

Ich begab mich ins Arbeitszimmer. Keine Notiz für mich auf dem Schreibtisch. An der Kreidetafel stand nur eine magische Formel.

‚Komm schon, Dave!‘, forderte ich lautlos.

Ich nahm astral wahr und lächelte augenblicklich. 

Dave hatte eine Nachricht mit Astralfarbe an die Wand geschrieben. Grüne, leuchtende Farbe, nur im Astralraum sichtbar, die ich zusammengemischt und ihm geschenkt hatte. ‚Community-Center’ stand dort zu lesen. 

Und nicht nur das, Dave war auf Nummer sicher gegangen und hatte mir einen minderen Geist, einen sogenannten Watcher ‚geschickt‘, der sogleich dicht zu mir geschwebt kam. Das kleine, humanoide Wesen, das in seinem Aussehen an eine Stoffpuppe erinnerte -  jeder Zauberer bestimmt irgendwie frei über das Aussehen seiner Watcher - fragte sofort: ‹Bist du Snowcat?›

Ich nickte. ‹Ja, ich bin Snowcat.›

Daraufhin materialisierte der Geist sich erfreut. „Gut. Ich habe eine Nachricht für dich!“, erklärte er stolz und dachte gleich darauf angestrengt nach. 

Ich wartete geduldig, obwohl Shark Finn, der an der Vordertür Wache hielt, gerade meldete: «Äh, hier kommen immer mehrere Leute her. - Kids. - Sehen normal aus, aber äh, vielleicht kommt mal einer von euch zu mir?!»

„Dave ist woanders hingegangen, weil er hier nicht mehr sicher war“, erklärte mir der Watcher unterdessen.

„Und wohin ist er gegangen?“

„In Sicherheit!“

Ich lächelte milde. „Das ist gut.“ Dabei hoffte ich inständig, dass dem immer noch so war.

Der Watcher nickte fröhlich und schwebte dabei auf und ab. 

„Weißt du, wohin in Sicherheit?“, fragte ich nach.

Der Watcher schüttelte traurig den Kopf. „Nein.“ Dann strahlte er wieder. „Aber du weißt es.“

«Hallo!», verlangte Finn. «Kommt mal wer her? Das sind viele und sie wollen rein. Ich könnte hier echt Hilfe gebrauchen!»

Doc tippte sich an den Hut. ‚Ich geh schon!‘, sagte er damit.

„Wie lange wartest du schon hier?“, fragte ich den Watcher.

„Laaange!“, erwiderte er.

„Ist die Sonne zwischendurch auf- und untergegangen?“, versuchte ich es.

Der Watcher überlegte und meinte dann zögerlich: „Ja und ja.“

Demnach war es also mehr als einen Tag her. 

„Du-uu! Ich muss jetzt los und Bescheid sagen, dass Snowcat da ist“, meinte der Watcher dann.

„Kannst du eine Nachricht von mir mitnehmen?“

„Nein, das kann ich leider nicht!“, antwortete der Watcher traurig und entstofflichte sich.

Ich seufzte leise. Zumindest hatte Dave es irgendwann in Sicherheit geschafft. Das einzige Community-Center, von dem ich hier in der Nähe wusste, war ein Gesundheitszentrum. Natürlich kamen mir dabei gleich wieder die Bilder aus der Navy-Klinik in den Sinn. Doch es lohnte nicht, sich weiter bange zu machen. Nicht mehr lange, dann würde ich es wissen und nicht raten müssen.

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Beinahe 15 Jugendliche und Kinder hatten sich vor der Tür versammelt, um zu sehen, ob hier wirklich die Howling Shadows waren. Oder besser gesagt, ob Snowcat, Eden und Shark Finn tatsächlich hier waren, denn Brian und Jason führten die Gruppe an. Einerseits war es schön, dass sie sich in einer solchen Situation wie dem Lockdown noch um so etwas scherten. Andererseits war es schon beängstigend.

Obwohl ich eigentlich alles lieber stehen und liegen gelassen hätte, um zum Community-Center zu gehen, nahm ich mir die Zeit für einem Dreh. Ich bat die Kids um eine Art Interview darüber, wie sie den Lockdown erlebt hatten. Immerhin drehten wir hier eine Dokumentation. Bis auf einen Ork und eine Zwergin waren es alles Menschen.

Mit Docs Fragetechniken und meinem Einfühlungsvermögen erzählten sie uns Dinge, die sie anderen sicher nicht erzählt hätten. Ehrlich, vielleicht nicht immer ganz wahr, aber in jedem Fall emotional. Wer auch immer das im Trideo sehen würde, der bekam ein Gefühl dafür, wie es war, wenn das komfortable Leben aus den Fugen gerissen wird.

Julie, die einen großen Wortschatz besaß, durch eine bildhafte Ausdrucksweise überzeugte und beinah flüsterte, schaffte es, uns mit ihrer Geschichte in den Bann zu ziehen. Sie war einer Gruppe von Shamblern äußerst knapp entkommen und wusste noch zu berichten, dass eine Wandlung von normal zu infiziert ‚unglaublich schnell' vonstatten ging. Etwas, das ich jetzt nicht verifizieren konnte.

Ganz zum Schluss winkte sie mich näher, um mir etwas anzuvertrauen.

„Ich habe verstanden, was sie murren, aber das macht für mich keinen Sinn“, flüsterte sie. „Die anderen glauben mir nicht, weil es für sie auch keinen Sinn macht. Aber ich weiß genau, dass sie immer wieder sagen: Wir müssen Cerberus warnen.“

Ich stieß einen wohlklingenden Pfiff aus. 

„Macht das für dich Sinn?“, fragte Julie. „Weißt du, wer Cerberus ist?“

Ich lächelte erneut. „Ich habe so eine Ahnung. - Aber ich weiß noch nicht genug, um dir die Bedeutung erklären zu können.“ Julie blickte enttäuscht drein. Ich unterdrückte den Impuls, dem Mädchen über das braune lockige Haar zu streicheln, und fügte stattdessen hinzu: „Es war in jedem Fall ein wichtiger Hinweis, und ich bin fest davon überzeugt, dass du sie richtig verstanden hast.“

Also doch Cerberus. Es konnte durchaus sein, dass ich eine Flasche Champagner gegen mich gewann. Cerberus warnen, jetzt stellte sich nur noch die Frage, wovor - und war das, wovor die Warnung ausgesprochen werden sollte, gut oder schlecht für die Metamenschheit?

In mir festigte sich das Gefühl, dass wir es hier mit einer ziemlich großen Sache zu tun hatten.

Die jungen Metamenschen waren jedenfalls davon überzeugt, dass jetzt, wo Howling Shadows in der Stadt waren, alles bald wieder gut werden würde. 

Wenn es doch nur so einfach wäre. 

Shambler waren keine magische Gefahr, die man jagen und fangen konnte.

Trotzdem sagte ich voller Ehrlichkeit zu, dass wir etwas unternehmen würden. Leider reichte das nicht, um die Teenager loszuwerden. Sie folgten uns. 

Einen Moment ließen wir das zu. Sie wussten ja nicht wohin, und wirklich sicher waren sie in ihren Einfamilienhäusern nicht. Es war gut, wenn sie lernten, sich zusammenzutun und sich selbst zurechtzufinden. Sie würden sich an die veränderte Situation anpassen müssen.

Selbstverständlich waren sie alt genug, um auch ohne jegliche Hilfe überleben zu können. Behütet aufgewachsen zu sein, war in dem Fall jedoch ein Nachteil. Das neue Leben würde sie erst lehren müssen, wie man überlebte. Einige würde dabei ihr Leben verlieren. Okay, in dem Gedanken war jetzt ganz schön oft das Wort ‚Leben‘ vorgekommen. Wenn das hier in Boston schnell genug vorbei war, würden sie zwar erwachsener werden, sich ansonsten aber nicht viel verändern. Bis auf das natürlich, was das Erwachsenwerden ganz von alleine mitbrachte. Doch wenn es länger dauerte, dann würden sie sich in vielen Punkten verändern. Sie würden härter und stärker werden, auf der anderen Seite aber auch etwas verlieren.

Ehrlich gesagt glaubte ich weiter nicht daran, dass die Sache hier schnell vorbei sein würde. Nicht mal nach meinen Maßstäben. Aber hey, vielleicht konnten wir das Ende ja auch beschleunigen. Das war doch mal einer Herausforderung.

„Wollt ihr zum Community-Health-Center?“, rief Brian uns zu. 

Ich hielt in meiner Bewegung inne und drehte mich um. „Weißt du etwas über die Situation am Center?“

Meine Präsenz brachte die gesamte Gruppe dazu, stehen zu bleiben. Brian zögerte. „Na, äh, die lassen keinen mehr rein. Einige von uns haben es versucht. Aber, äh, da ist es eh nicht mehr sicher. Da hängen Shambler rum.“

Ich nickte. „Gut, danke für die Information.“

„Macht ihr die Shambler jetzt platt?“, fragte Julie.

Ich lächelte leicht. „Nicht, wenn es nicht nötig ist.“

Jason verzog das Gesicht. „Wir kommen mit und helfen euch. Ihr seid nur fünf.“

Ich holte Luft, um etwas zu erwidern, doch Doc kam mir zuvor. Seine Worte klangen scharf wie Rasierklingen. „Wir sind mehr als genug! Wenn wir eure Hilfe brauchen sollten, sagen wir euch Beschied. Doch jetzt hört ihr auf, uns zu folgen!“

Ich konnte sehen, wie Energie und Entschlossenheit aus den Jungs und Mädchen wichen. Sie nickten. Oh ja, sie würden unsere Verfolgung aufgeben.

Docs Vehemenz beeindruckte mich immer wieder. Selbstverständlich war ich auch dazu in der Lage, einzuschüchtern und zu vertreiben. Doch Doc stand es einfach so viel besser zu Gesicht.

Selbst ich konnte nur sehr wenig aus Doc lesen, doch dass er gerne den Bösewicht gab, wusste ich. Jetzt zum Beispiel schmunzelte er. Diabolisch versteht sich. Dabei konnte Doc äußerst charmant sein, so er denn wollte. Und mir gegenüber war er stets zuvorkommend. Er hatte die Teenager nur verscheucht, damit ich das nicht tun musste. 

Na, zumindest fast nur deshalb.

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Tatsächlich versprachen die Spuren entlang des Wegs zum Community-Center nichts Gutes. Brandflecken, Blutspuren, Leichen. Das übliche, aber wieder in erhöhter Frequenz.

Hier hatte es deutlich mehr Ärger gegeben.

Es waren sogar einige Autos demoliert.

Nicht eine Metamenschenseele war zu sehen, und es war totenstill. 

Krrächz! Und noch einmal: Krrächz!

Eine Krähe saß auf einem Multi-Beleuchtungsstab. Ihr Krächzen hallte gespenstisch durch die Straße. 

Ich fing an, Krähen zu misstrauen. „Verschwinde!“, zischte ich ihr zu.

Krrächz!, erklang es wie zum Protest. 

Ich nahm astral wahr.

Keine Naniten, keine überdurchschnittliche Intelligenz und auch keine Magie. Ich entspannte mich.

Die Krähe öffnete die Flügel und flog davon. Wahrscheinlich hatte sie einfach nur Hunger gehabt. Noch! 

Aasfresser würden sich sehr schnell infizieren, bei der Masse von infizierten Toten, die in den Straßen lag. Natürlich war die Infektionsrate davon abhängig, wie lange die Naniten im Blut der Toten hielten. 

Ich schüttelte den Schauder ab. 

Wir setzten unseren Weg fort. 

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Man hatte die Türen es Community-Health-Centers verbarrikadiert, sogar zwei Krankenwagen vor den Eingang gefahren und Kisten aufgestapelt, um einen Schutzwall zu bilden. 

Wir ließen unsere Waffen stecken und liefen in offener Formation auf den Eingang zu. 

Ich ging voran und konnte spüren, wie das bei Shark Finn eine Anspannung im ganzen Körper auslöste. Eine Welle von Zuneigung breitete sich in mir aus und rollte sich wohlig in meinem Bauch zusammen. Sie vertrieb das unbehagliche Gefühl von Sorge um Dave zwar nicht völlig, aber sie reduzierte es zu einem erbsengroßen Knäuel.

Den Spuren nach hatte hier zumindest ein, wahrscheinlich sogar mehrere Kämpfe stattgefunden.

Ein Sicherheitsgardist, ein Mensch mit Helm und Panzerweste, kam hinter der Barrikade vor, starrte kurz in unsere Richtung und rief dann. „Haut ab, wir nehmen keinen mehr auf!“ Dazu wedelte er mit seiner Maschinenpistole.

[Song 7: Fall Out Boy - My Songs Know, What You Did In The Dark3] „Wahrscheinlich ist er blind!“, kommentierte Liam für die Kameradrohnen hörbar. 

Ich schmunzelte kurz. In meiner freundlichsten Stimmlage rief ich zurück: „Wir wollen nicht aufgenommen werden, wir suchen nur jemanden.“

Der Gardist zögerte kurz, rief dann aber: „Geht weg!“

Doc hielt einen Schritt inne und meinte trocken: „Wahrscheinlich ist er blind und taub.“

Wir lachten.

Ungeachtet der so eloquent vorgebrachten Bitte, wir mögen abhauen, näherte ich mich dem Gardisten und hob die Hände, zum Zeichen, dass ich unbewaffnet war. Selbstverständlich war ich offensichtlich bewaffnet, denn mein weißer, eng anliegender Catsuit konnte das Holster gar nicht verbergen, aber so unsicher, wie der Gardist wirkte, würde das für ihn kaum einen Unterschied machen. Die allgemein übliche Geste sollte helfen. Ich musste dennoch hoffen, dass ihm nicht gleich einfach der Kopf platzte, da wir ihn gerade völlig überforderten. „Wir sind nicht infiziert“, fügte ich vorsichtshalber hinzu.

Der Gardist drehte sich nach hinten um. „Bill, komm mal her! Oder nee, hol besser Doktor Madison, oder nee, komm her und hilf mir.“

„Das gefährlichste an ihm ist, dass er versehentlich auf jemanden schießen könnte, so wie er die Waffe hält“, meinte Eden ungehalten.

„Dann müsste ich ihm versehentlich kurz vorher ein drittes Auge schießen“, stellte Doc kalt fest.

Jedenfalls kam Bill jetzt dazu. 

Bill, ebenfalls ein Mensch, sah angespannt in unsere Richtung. Er wirkte erschöpft und müde. Ein Blick in seine Aura bestätigte das. Er kniff die Augen zusammen, eventuell glaubte er, mich von irgendwo her zu kennen. Doch Bill schob den Gedanken wohl beiseite. Mit einem Seitenblick auf Shark Finn sagte er: „Es tut mir Leid, Ma’am, aber wir nehmen aus…“, er stockte kurz, sein Unterbewusstsein hatte offenbar wahrgenommen, dass sein Satz nicht zur Situation passte. Er beendete ihn dennoch. „…Sicherheitsgründen niemanden mehr auf.“ Zumindest rang er sich ein Lächeln ab.

Doc schüttete bedauernd den Kopf. „Noch ein Blinder, aber ein höflicher!“

Als ich strahlend lächelte und freundlich sagte: „Das habe ich verstanden. Wir wollen auch nicht aufgenommen werden, wir suchen jemanden“, wurde der Gardist rot und schwieg.

„Befindet sich ein Mensch mit dem Namen Dave Cumberland hier?“, fragte ich und zog vorsichtshalber schon mal ein Bild von Dave in den Vordergrund meines AR-Bildschirmes um es gegebenenfalls mit ihm teilen zu können. „Knapp 1,90 m groß, schlank, braunes zerzaustes Haar?“ 

Bill überlegte. 

Er überlegte lange. 

Bei allen Drachen der Sechsten Welt, wie viele Leute waren in dem Health-Center untergekommen? 5000? Ich war kurz davor, das laut auszurufen, besann mich dann aber. Bill-Blind&Höflich und Blind&Taub waren einfach überfordert, übermüdet und erschöpft. 

Schließlich sagte Bill. „Das könnte sein, Ma’am. Ich werde Dr. Madison holen, er kennt sich einfach besser aus.“

„Und kann hoffentlich besser gucken!“, murmelte Liam.

Den Doktor zu holen, war gar nicht nötig, denn er kam bereits von selbst und nicht nur das - mein Herz vollführte einen Freudenhüpfer - Dave war bei ihm. 

Angeschlagen, etwas blass, einen Arm in der Schlinge, aber lebendig und, wie ich mit einen astralen Blick kontrollierte, völlig nanitenfrei und magisch wie eh und je.

Dave kam durch eine Lücke in der Barrikade gelaufen und umarmte mich einarmig, aber stürmisch. „Snowcat, ich wusste, du würdest kommen, um mich zu retten!“

Wir hielten einander für einige Sekunden fest. Als ich meinen Freund losließ, zeigte mir mein nächster Atemzug, wie schwer der Stein gewesen war, der mir gerade vom Herzen gefallen war.

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Dr. Madison besaß deutlich mehr Überblick als die Sicherheitsmänner. Er bat uns herein. Da wir wirklich Howling Shadows waren, wie ihm Dave mehr als einmal bestätigt hatte, fragte er uns sogar um Rat.

Rat hatten wir jede Menge, wie Eden mir zuflüsterte, kaum, dass wir hinter die Barrikade getreten waren. Sie hatte sofort mehrere Fehler in der Absperrung entdeckt. 

Eigentlich war so ein Commnity-Health-Center gar kein so schlechter Ort, um sich dort gegen Shambler zu verbarrikadieren. Es gab einen Generator für den Notfall, genügend Toiletten und Waschgelegenheiten, Behandlungsräume, Betten, Decken, eine Cafeteria und somit eine große Autoküche mit ausreichend Soy, Kaffeeautomaten und last but not least medizinisches Equipment und Personen, die es bedienen konnten.

„Wie viele sind Sie denn hier?“, fragte ich nach einem ersten kleinen Rundgang bis in die Cafeteria. 

„Ungefähr fünfzig Metamenschen“, erklärte Dr. Madison. 

„Nur fünfzig? Haben hier nicht mindestens doppelt so viele, wenn nicht dreimal so viele, Platz?“

„Wenn wir das gesamte Gelände zur Verfügung hätten, dann ja. Aber die Enzephalitis ist unter Patienten ausgebrochen und wir mussten uns hier in den vorderen Empfangsbereich zurückziehen. Soweit ich weiß befinden sich im Innenhof, in der Wäscherei und in der Verwaltung durchgedrehte Patienten. Tote sind da auch noch.“ Dr. Madison erschauderte. „Auch so wäre hier noch Platz, aber es gibt nicht genügend sanitäre Anlagen oder Schlafmöglichkeiten. Es tut mir Leid für die, die wir abweisen.  Aber ich muss an die Zukunft derer denken, die hier sind. Niemand weiß, wie lange es noch dauert.“

Ich legte ihm beruhigend meine behandschuhte Hand auf den Arm. „Was halten Sie davon, wenn wir uns um die Infizierten und Toten kümmern, das Gelände von Shamblern säubern und Ihnen dann bei der Absicherung helfen? Dafür nehmen Sie dann Familien aus der direkten Umgebung auf?“

Dr. Madison strahlte. „Also… also das wäre wirklich einfach großartig!“

Dave grinste breit. „Ich hab doch gesagt, Snowcat von den Howling Shadows ist meine Freundin und wenn sie erst mal hier ist, wird alles gut!“

❄️

Auch Eden grinste mich an, als wir uns zu einer Besprechung zusammensetzten. Sie war stolz, dass wir helfen würden und stolz auf mich, da ich diese Hilfe ohne zu zögern angeboten hatte.  

Der erste Schritt unserer frischen Mission bestand natürlich darin, die Shambler ausfindig zu machen und zu beseitigen.

„Wie gehen wir dabei vor?“, fragte Eden.

„Das Simpelste ist: Wir finden und töten sie, bringen die Toten nach draußen, sammeln sie dort, überkippen sie mit Liams Spezialmischung und verbrennen sie“, sagte ich an.

Eden wurde ein wenig blass. „Aber die Shambler sind Metamenschen, kranke Metamenschen, die uns nichts getan haben!“

Ich nickte. „Ich weiß. Das ist mir klar, aber sie stellen für die Gesunden eine Gefahr dar, von der wir nicht wissen, wann sie aufhört, eine Gefahr zu sein. Die Shambler wollen infizieren und dieser Ort wird sie anlocken. Abgesehen davon müssen die Metamenschen hier auch mal raus, um Supplies reinzuholen. Je weniger Shambler sich in der Umgebung aufhalten, desto besser ist es.“

„Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in nächster Zeit sterben, ist sowieso hoch“, erklärte Doc.

„Ich kann sie dennoch nicht einfach töten“, stellte Eden fest. „Nicht, wenn sie mich nicht direkt bedrohen.“

„Aber wenn sie dich angreifen, ist es okay, sie zu töten?“, wollte Liam wissen.

Eden nickte. "Dann ja!“

Ich wusste genau, was Liam dachte: Dann muss man die Shambler nur anlocken und dann würde Eden sich ihrer annehmen.

„Wenn du sie nicht tötest, dann mach ich das eben!“, erklärte ich mit mehr Vehemenz, als nötig gewesen wäre. Sanfter fügte ich hinzu: „Oder jemand anderes von uns!“

❄️

Am Ende zogen Doc, Liam und Finn los, um das interne Shambler-Problem zu lösen. Sie fanden insgesamt zehn Shambler und weitere 17 Tote. 

Nachdem die Gefahr beseitigt war, bezogen wir sämtliche Metamenschen vor Ort in die weiteren Arbeiten mit ein. 

Während einer Versammlung in der Cafeteria erklärte ich, was wir beschlossen hatten und was nun zu tun sei. Wir erzählten, worauf sie achten sollten und teilten Teams für bestimmte Aufgaben ein.

Eden erstellte einen Plan zur Sicherung des Geländes und kümmerte sich um die Organisation, während wir anderen loszogen, um den Zuzug der Familien anzugehen. Unser vor wenigen Stunden hergestellter Kontakt zu den Jugendlichen war hierbei hilfreich. 

Selbstverständlich kümmerten wir uns höchstpersönlich darum, dass Carol Sanders, die kleine Mary Jane und die Jeffersons auch im Health-Center unterkamen. Wir holten sie ab und halfen ihnen beim Tragen.

Wir werkelten, kümmerten und organisierten und ich verteilte Healthy-Glow-Zauber am laufenden Band. Der Zauber eignete sich wirklich außerordentlich gut dazu, die allgemeine Stimmung zu verbessern. 

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Da wir über Nacht blieben, saßen meine Howling Shadows, Dave, Dr. Madison, eine weitere Ärztin, zwei Pflegekräfte und ich am späten Abend noch in einem Besprechungsraum bei einem Glas Gin beisammen und tauschten unser Wissen über die Enzephalitis-Erkrankung aus. Natürlich rückte ich dabei nicht mit den wirklichen Geheimnissen raus, aber wir sagten ihnen zumindest, dass Naniten die Infektion verursachten. 

Daraufhin wurde Dr. Madison ganz blass. „Das heißt, die Verantwortlichen haben von Anfang an irgendwas gewusst. Man sagte uns nämlich ziemlich früh, dass wir bei den Patienten keine MRTs machen sollen, hat das aber nicht begründet.“

❄️

In dieser Nacht schrieb ich meinen Brief an Harlequin in einem Krankenzimmer auf dem Boden sitzend und an die Wand gelehnt, mit einem Bleistift, aber immer noch auf echtem Papier, welches ich vorsorglich eingesteckt hatte. 

Ich war ziemlich erschöpft, also ging ich nicht allzu detailreich auf die Ereignisse des Tages ein. Ich zeichnete noch ein Bild des gespenstischen Krähenkopfs. Im Hintergrund waren die Leiche und die anderen Krähen zu sehen. Das Bild würde sich gut in einem Horror-Comic machen. 

Zum positiven Ausgleich trug ich frischen Lippenstift auf und küsste die zweite Seite des Briefes. Dann scannte ich die Seiten ein.

Wie viele Briefe ich wohl noch aus Boston an Harlequin schreiben würde? Ich zuckte mit den zarten Schultern. Solange ich keine Bilder beilegen würde, auf denen Schnee zu sehen war, war es nur halb so wild.

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[Song 8: Lily Kershaw - Saved3] Dave ✔

Am späten Vormittag kehrten wir in unser Basislager in Tangos Studio zurück, einen glücklichen Dave im Schlepptau. Dave kannte die Howling Shadows aus der Gruppe selbstverständlich alle aus der Trideoserie. Mit einigen hatte er sich sogar auf dem Jägerball unterhalten, oder besser gesagt, sie hatten sich mit ihm unterhalten. 

„Hi!“, sagte Dave fröhlich und umarmte dabei Tango. Tango und er kannten sich schon länger, da wir in meiner Studienzeit hier in Boston diverse Male zusammen weggegangen waren. 

„Hey, Dave!“, erwiderte Fang. „Hast du Kaffee mitgebracht?“ 

Dave schüttelte entschuldigend den Kopf. „Nein, leider nicht.“

„Dann vielleicht Tee?“, rief Tiernan ihm zu. 

Wieder schüttelte Dave den Kopf. „Äh, sorry, nein, leider auch nicht. Ich hatte nicht viel dabei; als Snowcat und die anderen mich gerettet haben, war ich im Center. Und ich wusste nicht, dass wir hierher kommen und Tee und Kaffee brauchen. Ich wusste ja nicht mal vorher, dass ihr mich rettet. Also ich wusste natürlich schon, dass Snowcat mich rettet.“ 

Fang verzog das Gesicht. „Er spricht wirr!“

Fierce lachte. „Vielleicht, weil ihm Sachen passiert sind, die wirr machen. Was war bei dir los, Dave? Und warum hast du nicht zurückgerufen?“ 

Dave ließ sich auf einem Stuhl nieder, fuhr sich durchs wuschelige Haar und erzählte: „Also, ich hatte mein Commlink aus, weil ich was studiert habe, also was magisches, und ich war auf dem besten Weg zur Lösung, und darum hatte ich das Commlink aus, und als ich es an hatte, hab ich Snowcats Nachrichten gehört und geguckt, was überhaupt los ist, und dann wollte ich zurückrufen, aber ich hatte plötzlich kein Netz mehr und dann keinen Strom, und dann hab ich ausgemacht, um Strom zu sparen, und dann war es plötzlich laut draußen und ich hab geguckt, was draußen los ist.“ Mit Fortschreiten der Geschichte wurde Dave in seinen Bewegungen immer aktiver. Inzwischen wedelte er bereits mit den Armen. Nun stand er sogar auf. „Und draußen waren dann Metamenschen, die rannten weg.“ Er zappelte nun. „Und dann die Shambler so WOAAR!“ Er unterstützte den Laut mit vorgestreckten Armen und zu Krallen geformten Händen, die er auf und ab bewegte. „Und die Metamenschen so: Kreisch!“ 

Fang unterbrach ihn. „Kannst du das mit den Armen noch mal machen?“ 

Liam verdrehte die Augen. „Ja, Dave, mach dich noch mal zum Affen!“ 

Dave war da nicht so, er lief sogar auf und ab und gab den ‚Woaar‘-gröhlenden Shambler mit vollem Einsatz. 

Fang und Fierce schmissen sich weg vor Lachen.

Average lachte nicht, er flog die Ballhaus10-Drohnen herein und meinte ernst: „Warte mal, mach das für die Kamera noch mal bitte.“

Wie immer, wenn es ums Filmen ging, hatte AveRAGE recht. Auch wenn Fang und Fierce sich vor Lachen die Bäuche hielten: Wie Dave von dem Angriff der Shambler, seiner Flucht und den Zuständen im Community-Center erzählte, es würde sich in unserer Trideo-Dokumentation einfach gut machen.

❄️

Sinister sah Columbo skeptisch beim Laden seiner Waffe zu. „Soll ich die mal für dich reinigen?“, bot sie an. „Die ist nicht gut gepflegt, nicht mal richtig sauber.“

Columbo warf einen ruhigen Blick auf seine Ares Predator und erwiderte entspannt: „Doch, die ist sauber. Ich kann das!“

„Offensichtlich nicht!“, widersprach Sinister. „Wir sind hier auf einer Mission mit offenem Ende und ohne gesicherten Nachschub. Du solltest auf deine Arbeitsmaterialien achten.“

Columbo legte die Waffe ein wenig geräuschvoll auf dem Tisch ab. „Das tue ich! Ich kann die Waffe auseinandernehmen, säubern und zusammensetzten.“

„Das ist doch mal eine gute Idee!“, proklamierte Liam. „Columbo, Sinister und Eden reinigen ihre Waffen gleichzeitig und wir stoppen, wer schneller ist.“

Doc griente. „Sehr gut - und der Rest von uns kann darauf wetten, wer am schnellsten ist!“

Fierce war begeistert. „Das klingt super. Aber worum wetten wir denn?“

Dafür hatte Tiernan etwas parat. „Abwasch- und Abräumdienste.“

„Wir haben da Dienste?“, fragte Fang verwundert.

„Jetzt schon!“, meinte Liam nun. So schnell, wie er einen Dienstplan für die nächsten 14 Tage ins Teamnetzwerk geworfen hatte, war er auf die Sache vorbereitet gewesen.

Ich sah mir die Liste an. Für jeden Tag gab es den Eintrag ‚Frühstück/Lunch‘ und ‚Abendessen‘, für jeden Dienst waren zwei Namen eingetragen.

Mein Name und der von Liam standen nicht auf der Liste. Doch niemand äußerte sich dazu. Ansonsten war jeder, auch Tango und Dave, gleichermaßen vier mal auf dem Plan vertreten.

„Kann ich auch mehr als einen Dienst auf wen setzten?“, wollte Fierce wissen.

Doc nickte. „Natürlich!“ 

„Auf wen setzt du denn, Fang?“, fragte Fierce nun.

Fang überlegte. „Auf Eden, glaub ich. Wir sollten auf den gleichen setzen und gleich viele Dienste nehmen. Dann haben wir zusammen mehr Freizeit, und wenn wir verlieren, dann können wir wenigstens zusammen Dienst schieben, was meinst du?“

„Ich wollte eh auch auf Eden setzen!“, stellte die Orkin fest. „Dann lass uns das machen! Und wir sollten alle Dienste setzen, aber setzen wir alle auf Eden?“

„Klar!“

Liam notierte das auf einer virtuellen Wetttafel. 

„Trag mich auch für Eden ein!“, bat Columbo. 

Doc griente. „Ein Spieler nach meinem Geschmack!“

„Wenn Columbo jetzt extra langsam macht, dann ist das aber nicht ganz fair!“, gab Dave zu bedenken.

Sinister zuckte mit den Schultern. „Er hat sich doch eben selbst aus dem Wettbewerb genommen und es gesagt, bevor jemand auf ihn gesetzt hat. Dann ist das fair genug. Aber mir reicht es, wenn er zeigt, dass er seine Waffe putzen kann. Ich setzte natürlich auf mich!“

Colombo sah in die Runde. „Es geht nicht nur darum, sie schnell auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, sondern auch danach, dass die Waffe sauber ist, richtig?“

Liam nickte. „So ist es!“

„Wer entscheidet, ob die Waffe sauber ist?“, fragte Columbo nun.

„Das mache ich!“, legte Doc fest. 

Average rieb sich die Hände. „Nie wieder abwaschen!“, freute er sich. Nicht, dass er bisher hatte abwaschen müssen. Bisher hatten den Part vornehmlich Tiernan und Tango übernommen. 

Fierce sah ihn argwöhnisch an. „Woher weißt du das jetzt schon?“ 

Average erklärte: „Na, Columbo ist raus und ich setzte auf Eden und Sinister, dann muss ich nie wieder abwaschen.“

Fang und Fierce lachten gleichzeitig los. Dann entbrannte eine Diskussion, warum das völliger Quatsch sei. Irgendwann war Average überzeugt, wirkte aber enttäuscht, da er das mit dem Einsetzen falsch verstanden hatte. Etwas maulig meinte er. „Ich setzte auch auf Sinister. Aber wenn ich dann abwaschen muss und was kaputt geht, dann ist das eure Schuld, ich bin schrecklich ungeschickt.“

Liam sah AveRAGE ernst an. „Wenn es wirklich dazu kommt, ich kenne ein paar Methoden, durch die man solches Ungeschick verlernt.“

Tiernan lachte dreckig. „Ich habe eigentlich erwartet, dass du fragst, was mit dem Fünf-Uhr-Tee auf dem Dienstplan ist, anstatt dass du versuchst, Ausreden zu erfinden.“

Dave schloss sich Fang und Fierce an und setzte auf Eden.

Sie setzten der Reihe nach ein bis drei Dienste, einzig Fang und Fierce hatten alles gesetzt. 

Tango studierte eingehend jeden Körperbau und setzte dann auf Sinister.

Doc rechnete blitzschnell nach jedem Einsatz die veränderten Quoten im Kopf aus. Er war damit schneller als Liam via AR - und das wollte wirklich etwas heißen.

Schließlich fehlten nur noch die Wetteinsätze von Tiernan und Doc. 

Tiernan sah sich alle Wettkampfteilnehmer an, trat dann an Columbo heran und massierte ihm die Schultern. 

Ich musste nicht einmal astral wahrnehmen, um zu wissen, dass Tiernan cheatete und Magie wirkte.

Ich hob eine meiner zarten, wohlgeformten Augenbrauen und sagte auf Irisch-Gälisch: „Ich hab genau gesehen, was du gemacht hast!“

Tiernan grinste nur und setzte auf Columbo. Auch Doc folgte Tiernans Beispiel.

Als der Wettkampf begann, gaben die drei Teilnehmer alles. Selbst Columbo wirkte hochkonzentriert. 

„Eden, versau’s nicht!“, forderten Fang und Fierce noch.

Es gab ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Es klackte und klickte und bald lag der Duft von Ballistol in der Luft.

Es wurde gejohlt und angefeuert. Am Ende legte Columbo knapp vor Sinister die gereinigte Pistole auf dem Tisch ab. Eden folgte nur Sekunden später. 

Tiernan jubelte. 

Liam warf eine Papierkugel nach ihm und traf.

Liam warf des öfteren Papierkugeln nach seinen Familienmitgliedern. Er drückte damit sein freundliches oder weniger freundliches Missfallen ob einer Verhaltensweise oder Aussage aus. Er traf jedes Mal, und seltsamerweise versuchte niemals auch nur irgendwer, auszuweichen. Ich hatte SpArcade einmal auf diese Tatsache angesprochen. Die Zwillinge waren daraufhin blass um die Nase geworden und hatten gemeint, wenn man einer Papierkugel ausweichen würde, würde etwas Furchtbares geschehen, wie ein Dimensionsloch, das sich auftun würde, um den Ausweichenden zu verschlucken.

Tiernan jedenfalls ließ sich treffen und meinte: „Luck of the Irish!“

Fang schüttelte in gespielter Traurigkeit den Kopf. „Oh Mann, Fierce, wir werden nichts mehr anderes machen außer Abwaschen, solange wir hier sind.“

„Doch, werdet ihr!“, versprach Liam. "Und zwar gleich, denn eure Liste mit den Besorgungen ist noch lange nicht abgearbeitet.“

❄️

[Song 9: K-Flay - Blood In The Cut3] Dank des ‚Batterie‘-Zaubers, den Tiernan von Thunderstrike gelernt hatte, war Energie kein Problem. Lebensmittel schon. Zumal wir mehr werden würden, wenn es uns gelang, alle zu retten, die wir zu retten beabsichtigten. 

Tiernan und Mash hatten einige merkwürdige Dinge auf die Beschaffungsliste gesetzt, wie Hände einer Schaufensterpuppe, einen Teddy-Kopf oder Ziegel aus Ton. Da man wegen des Teddy-Kopfs sowieso einen Spielzeugladen aufsuchen würden müssen, setzte ich kleine Plüschtiere auf die Liste. Es lohnte sich immer, so etwas im Rucksack zu haben, wie ich gestern gelernt hatte.

Wo wir schon beim Thema Spielzeug waren, hatte Liam die Liste um Spielzeugroboter und selbstlaufende Tiere erweitert.

Die von uns, die Dave gerettet hatten, hatten heute frei, wenn sie denn wollten - und ich wollte. Genau genommen hatte ich den freien Tag darum angesagt.

Die Clips, um Doc und Columbo unseren Zuschauern vorzustellen, drehten wir aber trotzdem. Freier Tag hin, freier Tag her. 

❄️

Am Abend saßen wir quatschend beisammen. Wer mit Wache halten dran war, wurde einfach per Teamnetzwerk zugeschaltet. 

Tiernan begann zu musizieren und ich stieg irgendwann mit ein. Fierce hatte von ihrer heutigen Tour ausreichend Wodka und Whisky mitgebracht. Da Mash notfalls entgiften konnte, konnten wir uns das mit dem Alkohol auch alle leisten.

Als in unser Lager langsam endgültig Ruhe einkehrte, setzte ich mich aufs Dach und schrieb einen langen, überschwänglichen, leicht frivolen und an manchen Stellen augenzwinkernden Liebesbrief an Harlequin. Ich war nicht wirklich betrunken, aber ich hatte genügend Whisky intus, um meinen Liebsten zu vermissen. Auch, aber nicht nur körperlich. 

Ich habe mich schon immer schwer mit sexueller Enthaltsamkeit getan, die mir in der Anfangsphase, also wenige Tage nach dem letzten Sex, immer besonders schwer fiel.

❄️❄️

Ausgelassen, duftend und schön wie immer erschien ich am nächsten Morgen am Frühstückstisch. Ich ging ein bisschen dichter als vielleicht nötig gewesen wäre an Mr. Tea vorbei. Ich wusste, dass er jedes Mal meinen Duft tief einatmete, wenn ich in seine Nähe kam. Er wollte nämlich möglichst viel davon haben. Selbstverständlich machte er als Gentleman das sehr dezent. Mir war es dennoch aufgefallen

„Was steht heute für eine Mission an?“, fragte Sinister und nahm sich eine Scheibe vom frisch gebackenen Brot.

„Eine Rettungsmission?“, schlug Tiernan vor und stellte einen speziell für mich zubereiteten Teller mit Pancakes vor mir ab. 

Ich bedankte mich mit einem zarten Kuss auf seine Wange.

„Das dachte ich mir, aber wen retten wir heute?“, wollte Sinister wissen.

„Ich wäre für den Hub-Blogger!“, schlug Fang vor. 

Ich rief die Karte auf. „Natürlich müssen wir dann in die HCZ, in die Hub Containmen Zone, die doppelt umzäunt ist, aber ich bin sicher, wir werden einen Weg hinein finden.“ Ich sah mich am Tisch um und bekam so ein Gefühl dafür, wer von ihnen Lust auf eine Mission hatte. „Liam? Doc? Würdet ihr mich noch mal begleiten?“

Beide nickten. „Shark Finn?“, fragte ich als nächstes. 

Der Fomori war erleichtert. „Gerne, Sis’!“

Columbo strahlte keine völlige Entschlossenheit, aber eine gewisse Neugier aus. Ich sah ihn an. „Wir begeben uns in die Nähe der Konzernenklaven, die im Hub quasi über uns thronen werden. Vor allem werden wir es mit Knight Errant beziehungsweise Ares zu tun bekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass dein Wissen über deren Vorgehensweise dort hilfreich ist, Columbo. Außerdem wäre deine Fähigkeit zur Astralprojektion bestimmt nützlich. Kann ich auf dich zählen?“

„Ja, selbstverständlich. Dann kann ich dabei gleich ein paar Proben nehmen und mir ein Bild von den Lage dort machen.“

Ich dachte daran, Mr. Tea mitzunehmen, doch was sonst sein größter Vorteil war, der waffenlose Kampf, war hier bei der Gefahr von Nanitenübertragung ein Nachteil. Außerdem bereitete der Gedanke, gegen Shambler zu kämpfen, dem Gentleman Unbehagen. Also lächelte ich den zweiten weiblichen Elf hier am Tisch an. „Sinister, du machst den Point!“, legte ich fest. 

„Klar, ich geh gern vor. Ihr glotzt mir alle eh ständig auf den Hintern!“ 

Shark Finn grinste. „Na, wenn du vorne mehr hättest, würden wir auch dahin gucken.“

Tiernan winkte ab. „Hey, lass mal, Finn, der Hintern kann sich ja auch sehen lassen. Das tollste ist das Special-Feature, das wir in Sinisters schwarzen, hautengen Catsuit eingebaut haben. Der wird nämlich in unregelmäßigen Abständen da hinten transparent!“

Sinister überlegte für einen Moment, ob das möglich sein könnte, doch als Fierce überrascht die Augen aufriss und fragte: „Echt?“, war Sinister klar, dass das ein Scherz gewesen war.

Auch Fierce verstand nun. „Ach Mann, ich hätt’s cool gefunden. Aber mal ehrlich, Sinister, du bist oben immer ganz schön zugeknöpft, soll ich dir mal meine Enthaarungscreme für den Busen leihen?“

Alle lachten.

Sinister winkte ab. „Ich bin ein Elf, ich habe keine Brustbehaarung.“

Fierce zuckte mit den Schultern.

Average war neugierig geworden. „Warum hast du sowas, Fierce?“

„Um meinen Busen zu enthaaren vielleicht?“, erwiderte Fierce. „Willst du sie mal ausprobieren? Die Creme, mein ich? Enthaart, riecht gut und macht die Haut schön weich.“

Average zögerte. „Klingt spannend, aber nicht, dass mein Busen dann wächst!“

Nun lachte Fierce laut und herzhaft. „Kann schon sein, aber das ist dann dein Risiko!“

AveRAGE nickte. „Stimmt, aber vielleicht probiere ich die Creme heute mal aus - und drehe das gleich.“

Fang feixte. „Genau: Average in Gefahr! Dadadadamm!“

Average zeigte auf Fang. „Du sagst es! Als Ersatz für die Abspannclips, was meinst du, Snowcat?“

„Ich finde die Idee sehr gut.“

AveRAGE beugte sich vor und flüsterte nach einem Seitenblick auf Eden verschwörerisch: „Und morgen probiere ich dann aus, in Edens Bett zu schlafen, wenn sie nicht in der Nähe ist.“ Der immer noch leicht behäbige Mann - obwohl das in den letzten Monaten wirklich besser geworden war, da er viel trainiert hatte - tat, als rüttle er sich in einem Bett zurecht. 

Ich lachte leise. Ich konnte ihn wirklich gut leiden.

❄️❄️

Columbo hatte einen Wassergeist gerufen und ich hatte mich heute für eine Sylphe entschieden. Den Mindnet-Spruch hielt ich wieder aufrecht, auch wenn das bedeutete, dass ich mich die ganze Zeit konzentrieren musste. Wir wollten nur allzu gern von Commlinks unabhängig bleiben. 

Wir bewegten uns in lockerer Formation, also mehr wie eine normale Gruppe von Metamenschen. Sinister lief daher gar nicht voraus. Jedenfalls nicht, so lange wir sichtbar blieben.

Doc ließ sich ein Stück hinter Sinister und mich zurückfallen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er kam nicht umhin, wölfisch zu grinsen.

Ja, Sinister, mit schwarzem langen Haar und im schwarzen Catsuit, neben mir, mit weißem, noch längerem Haar und in einem weißen Catsuit, das war sicher ein… sagen wir mal, erhebender Anblick. 

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt - denn kaum einer würde darauf achten, wenn er uns Elfen vor Augen hatte - dass Columbo einen grauen, gepanzerten Anzug und farblich abgestimmtes Schuhwerk trug, welches selbstverständlich aus dem Hause Ares stammte. 

Shark Finn, Doc und Liam waren ähnlich gekleidet wie bei der Rettungsmission von Dave.

Sinister behagte die Geistesverbindung übrigens fast genauso wenig, wie sie zwei Tage zuvor Eden gefallen hatte. Doch wie die SEAL war auch unsere Ghost Profi genug, um damit klarzukommen. Sinister war deutlich stärker darauf trainiert, ihre eigenen Emotionen im Griff zu haben. Sich durch einen Gedanken zu verraten, bereitete ihr weniger Sorge. 

Mit der Ghost-Elfe, Shark Finn, der im Einsatz immer aufmerksam und still war, Liam, der eindeutig zur kühlen Fraktion gehörte, dem Ermittler Columbo, der alles mit Ruhe und Gelassenheit anging, und Doc, der so eiskalt war, dass die Lufttemperatur in seiner Umgebung um zwei bis drei Grad sank, und von dem gar keine Emotionen zu empfangen waren, war heute eine ultra-coole Truppe unterwegs.

[Song 10: The Action Band - Captain America Civil War Soundtrack - Sharks Don’t Sleep3] Dennoch war es ein Trugschluss, zu glauben, dass uns das, was wir auf unserem Weg sahen, nicht berührte, nur weil wir kontrolliert und cool waren.

Der Schutzwall der Hub Containment Zone, kurz HCZ, reichte auf allen Seiten bis zum Wasser, wo dann gepanzerte und bewaffnete Boote die Sicherheit stellten. Der Schutzwall selbst bestand sogar aus einem vierfachen Zaun. Erst kam ein Doppelzaun, dann ein Streifen freier Raum für die Patrouillen und dann ein weiterer Doppelzaun. 

Als wir an der HCZ vorbei kamen, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Wir sahen durch den Doppelzaun wieder Körper liegen. An verschiedenen Stellen gab es Haufen brennender Leichen. Der Gestank war fürchterlich! Auch die Shambler, die sich an diversen Ecken versammelt hatten, hin und her wackelten und teilweise immer wieder an der selben Stelle an eine geschlossene Tür stießen oder gegen eine Wand liefen, waren für uns nicht zu übersehen. 

Mit einigem Entsetzen fragte ich mich, wovon sich die Shambler wohl ernährten. Dachten sie überhaupt daran, zu essen und zu trinken? 

Immerhin war Sommer, was übrigens den Gestank in der Stadt nach und nach nicht besser machen würde. Automatisierte Prozesse liefen weiterhin ab. Dort, wo die Müllabfuhr mit autonomen Fahrzeugen und Drohnen abgedeckt war, würde der Müll auch zukünftig abgeholt werden, doch das war nicht überall so. 

Wenn die Shambler andererseits nach und nach sterben würden, könnten die Neuinfektionen rein theoretisch enden und die Stadt zeitnah wieder geöffnet werden. Doch ganz von alleine wurde selten etwas gut.

Ich würde von all dem in den nächsten Wochen genug mitbekommen, um darüber berichten zu können. Wie immer zählte vordringlich das Hier und Jetzt, von dem ich leise sprechend immer wieder Details verdeutlichte, um dem zukünftigen Zuschauer von SatHS zu erklären, was hier gerade so abging. Die CU^3s waren gut von AveRAGE programmiert. Sie folgten meinen Hinweisen und nahmen das Geschehen in die Sensoren. 

Wir bewegten uns jedenfalls oben auf dem Highway entlang. Auch heute waren wir nicht die einzigen, die auf den Straßen unterwegs waren. Immer wieder entdeckten wir andere Gruppen von Metamenschen. Vielleicht suchten sie nach Nahrung, wollten jemanden besuchen oder doch noch nach Hause. Warum auch immer, im Moment lohnte es sich für uns nicht, einen Umweg zu machen, um mit ihnen sprechen zu können. 

Charlestown schien aktuell eine Heavy-Combat-Zone zu sein, wie uns Blicke runter in diese Richtung zeigten. 

Die Atmosphäre blieb surreal. Leere Highways, geparkte Autos auf den Straßen, kein Alltagsgeschehen und das drückende unterbewusste Wissen darum, dass dies nicht normal war, selbst wenn keine Shambler zu sehen waren.  

Wir ließen uns durch Columbos Geist verschleiern, verließen den Highway und gingen dann weiter Richtung Paul Revers Park. 

Ich vernahm ein entferntes Schmatzen. Wenn meine Sinne mich nicht täuschten, schob sich auch ein leises unterdrücktes Weinen und Wimmern darunter. Wir hatten keinen Zeitdruck, also war ein kleiner Umweg kein Problem. Ich sagte die Richtungsänderung an.

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Wir näherten uns dem Schmatzen vorsichtig, trotz Verschleierung. Wie ich immer wieder sagte, war die Geisterkraft keine Garantie, nicht bemerkt zu werden. Columbo gehörte zu denjenigen, denen über Magie hinaus nicht viele Möglichkeiten zur Heimlichkeit blieben. Dafür, dass er eigentlich ein Ermittler war, schlug er sich doch erstaunlich gut. Ich grinste kurz in mich hinein. Immerhin war er daran gewöhnt, sich viel auf den eigenen Füßen zu bewegen. 

Auf dem gut gefüllten Parkplatz vor einem Diner saßen vier Ghoule, die sich zufrieden schmatzend an zwei Leichnamen gütlich taten. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Für sie war das überraschende Nahrungsangebot ein Gewinn. Dennoch würden wir vor dieser Szene in der Dokumentation einen Warnhinweis einbauen und einen Filter anbieten müssen, denn es war kein schöner Anblick, wie sich die Ghoule zufrieden an den Eingeweiden labten. Nichts für schwache Nerven oder Mägen, von denen wir zum Glück keine besaßen. 

Der Brunch der Ghoule war jedenfalls schon tot, konnte also nicht geweint haben. Wir sahen uns um. 

Sinister entdeckte zwei Frauen, die sich in dem Diner versteckt hatten und immer wieder vorsichtig durch ein Fenster lugten. Den gelben Kleidern und orangenen Schürzen nach arbeiteten die Frauen normalerweise auch in einem Diner. Ob es in diesem war, konnte ich nicht sagen. Ich war dort noch nie gewesen. Die Ghoule hatten die Frauen offenbar bei deren Suche nach Nahrung überrascht und versperrten ihnen nun den Ausgang. Die dunkelhaarige, kurvige menschliche Frau versuchte offenbar, die schlanke Blonde davon zu überzeugen, trotzdem einfach den Diner zu verlassen, war mit ihren Überredungsversuchen bisher jedoch nicht erfolgreich gewesen. 

‹Greifen wir ein und töten die Ghoule?›, fragte Columbo via Mindlink.

Ich überlegte kurz und erwiderte dann: ‹Negativ. Es ist nicht notwendig, die Ghoule zu töten. Sie sind nur Aasfresser und tun der Stadt eher gut.› Wenn sie denn das infizierte Fleisch problemlos vertrugen, aber das dachte ich nicht an die anderen weiter. ‹Wie wäre es, wenn du stattdessen einen Einfluss-Zauber auf die Ghoule wirkst und sie dazu bringst, woanders hinzugehen, Columbo?›, fragte ich an.

‹Meinst du, das reicht den Frauen?›, wollte Columbo von mir wissen.

‹Das werden wir gleich sehen. Sie wirken nicht völlig hilflos›, erklärte ich. Sie definitiv zu retten, würde vielleicht bedeuten, sie mitzunehmen. Dann würden wir sie mit zu Tango nehmen müssen. Dafür gab es im Moment keinen Grund. Sie standen einfach nicht auf unserer Liste.

‹Doc, wer ist deiner Meinung nach der Anführer der Gruppe?› Ich ging fest davon aus, dass Doc das wusste und dass diese Antwort Columbo weiterhelfen würde.

Doc enttäuschte mich nicht. ‹Der vorne links.›

‹Verstanden›, bestätigte Columbo und zauberte. 

Einer der Ghoule blickte plötzlich hoch, schnupperte, sah sich dann um und stieß seine Brunch-Freunde an. Er zeigte die Straße hinunter. Die anderen nickten. Dann standen sie auf und zogen eilig ab.

‹Sehr gut!›, lobte ich.

‹Ich habe ihm suggeriert, dass es da hinten leckerere Tote gibt. Gut, dass das für sie tatsächlich eine Rolle spielt.›

Sinister schlich ein Stück vor, um besser sehen zu können, was die Mädchen im Diner machten. Die Elfe sandte uns die entsprechenden Bilder via Mindlink. Der Spruch war wirklich praktisch und in dieser Situation die aufzubringende Konzentration wert.

Die Vollbusige stupste die Blonde an. Diese nickte und nahm all ihren Mut zusammen. Die beiden öffneten die Tür, sahen nach rechts und links und liefen dann davon, und zwar in die den Ghoulen entgegengesetzte Richtung. Die Blonde trug flache weiße, medizinische Sandalen, die offenbar nicht ihre eigenen waren. Zwölf-Zentimeter-Stilletto-High-Heels in Nude von Aston-Louboutin hingen an ihrem prall gefüllten Rucksack. 

Die beiden wirkten ziemlich clever. Sie würden es schon schaffen.

❄️

Als wir uns dem Damm näherten, den wir als unseren Übergang anpeilten, machte sich mein inneres Gespür für die Magie bemerkbar. Ich registrierte ein wohliges Kribbeln auf der Haut. So etwas hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt. Ich nahm astral wahr.

Vor mir lag eine Mana-Line, im konkreten Fall eine Dragon-Line. Dragon-Lines orientieren sich an geografischen Gegebenheiten wie Vulkanen, Flüssen und Seen. Ich hatte schon während des Studiums erfahren, dass sie durch Boston führte, doch ich hatte sie noch nie auf diese Art registriert.

[Song 11: Halsey - I  Walk The Line3] Sie war warm, kribbelnd, einladend, erhebend und mächtig.

Zum Glück führte unser geplanter Weg mitten durch den Machteinfluss der Dragon-Line. Ich vergaß beinah völlig, dass sich die magische Hintergrundstrahlung wie Blei auf die astralen Schultern der drei anderen magischen Aktiven, Sinister, Columbo und Doc legen würde. Beinah.

‹Wir gehen hier auf einer Mana-Line mit steigendem Potenzial entlang›, sagte ich an. ‹Denkt daran, dass sich eure Zauberspeicher und Foki deaktivieren. Vielleicht schaltet ihr sie einfach vorher aus. Columbo, besser ist es, wenn wir jetzt die Verschleierung fallen lassen und du deinen Geist auf dessen Ebene warten lässt. Er fühlt sich hier nicht wohl!›, sagte ich an. 

Irrte ich mich oder hatte meine Stimme tatsächlich noch glamouröser und beeindruckender geklungen als sonst?

‹Mach ich!›, bestätigte Columbo nur.

Ich genoss die Macht, die in dem astral so güldenen Glitzern lag. Die alte, unbändige und wunderschöne Magie der Drachen schwang darin. 

Ich hatte mich noch nie in einem Managebiet bewegt, dessen Einfluss positiv auf mich wirkte. Ich konnte nicht anders, ich öffnete den Ärmel meines Catsuits ein Stück, um zu sehen, ob meine Haut stärker glänzte. Doch dem war nicht so, wie ich ein klein wenig enttäuscht feststellte.

Mit jedem Schritt wuchs das erhabene Gefühl.

Er war unglaublich! Berauschender als jede Droge.

Ich führte mein Team mitten auf das Machtzentrum der Dragon-Line zu.

Ich wollte mich ausstrecken, mein Leben lang darin baden…

… doch dann zwang ich mich, stehenzubleiben. 

„Stopp!“, sagte ich mit leicht belegter Stimme, die klang, als wäre ich angetrunken.

Mein Team blieb augenblicklich stehen. 

Ich korrigierte meine Tonlage und erklärte: „Sinister, wenn wir geradeaus weitergehen, übersteigt die Hintergrundstrahlung die Kraft des an dir verankerten Zaubers. Das würde ihn permanent zerstören.“

„Shit!“, schimpfte die Elfe. „Können wir das umgehen?“, fragte sie.

Ich nickte langsam. „Ja, das können wir. Wir müssen einfach nur ein Stück weiter rechts entlang.“

Sinister atmete auf. Selbstverständlich würde es für sie, Columbo und Doc dort eh deutlich angenehmer sein.

Mir selbst würde eine Richtungsänderung ebenfalls nützen. Auch der an mir verankerte Zauber, der mein körperliches Potenzial verbesserte, würde sonst erlöschen. 

Ich horchte in mich hinein und stellte fest, dass ich bereit war, diesen Zauber aufzugeben.

„Wartet hier!“, sagte ich an. „Ich werde mir die Mana-Linie links näher ansehen.“

Niemand widersprach. 

„Shark Finn! Du kannst mich begleiten, wenn du möchtest!“ Finn war mundan und ein Fomori. Ihn würde die Hintergrundstrahlung nicht stören oder beeinflussen.

Shark Finn nickte. „Gerne, Snowcat!“

Ich entließ Sylphe Leeree und dankte ihr, dass sie sich bereitgehalten hatte. Dann schritt ich vor, bis der Strom der Dragon-Line am mächtigsten war, also ziemlich dicht bin an das Wasser heran. Mein eisweißes Haar tanzte in der Macht wie sonst nur im Wind, jedenfalls, wenn man mich astral ansah. Die Energie umflutete mich, lockte mich, spielte mit mir. 

Die Macht schien unbegrenzt. Ich konnte alles erreichen! Die Welt stand mir offen! 

Ich sandte meinen Ruf nach Unterstützung auf die Ebene der Guardian Spirits. Ich hatte bisher nur wenige Male nach einem so mächtigen Geist gerufen. Da ich trotz der berauschenden Macht meinen Verstand nicht verloren hatte, riskierte ich nichts, was über die Grenze hinaus ging, die ich mir einst gesetzt hatte. Zumindest, was meinen Charme anging, wollte ich dem Geist ebenbürtig sein. 

Warden Ramirez erschien ohne zu zögern, und als wir uns über die Anzahl der Dienste einig waren, verbeugte er sich tief. „Zu Euren Diensten, MyLady!“

Ich genoss den Manafluss noch einen Moment, dann kehrte ich unter dem Schutz von Shark Finn und Warden Ramirez zu den anderen zurück. 

❄️

[Song 12: Hans Zimmer & Benjamin Wallfisch /Blade Runner 2049 - 20493] Mit Hilfe meines feines Gespürs für den Fluss von Mana in meiner Umgebung führte ich mein Team auf einer für sie erträglichen Hintergrundstrahlung Richtung Damm. Ich bat Warden Ramirez, uns vor den Sinnen aller zu verbergen. 

Da es sich bei dem Staudamm zur Hochwasserkontrolle um einen regulären Weg über den Fluss handelte, war er durch vollgepanzerte, stark bewaffnete Ares-Sicherheitsleute bewacht. 

‹Wie gehen wir vor?›, fragte Sinister und nutzte den frischen Mindlink-Zauber.

‹Ganz einfach, wir gehen direkt an ihnen vorbei. Sie werden uns nicht bemerken›, stellte ich fest.

‹Copy!›, erwiderte Sinister und setzte sich in Bewegung. 

Colombo zögerte. ‹Ich bin nicht sonderlich leise›, meinte er unsicher und bewies, dass man auch über die Gedankenverbindung flüstern konnte.

‹Das macht nichts›, sagte ich sanft. ‹Mein Geist ist mächtig, sie werden uns nicht sehen!›

Columbo holte tief Luft, nickte und folgte den anderen. 

Doch als wir uns dem ersten Sicherheitsmann näherten, brach Columbo der Schweiß aus. Ich roch es, bevor man es sehen konnte.

‹Ich kann das nicht! Das sind gut ausgebildete Männer von Ares. Ich bin ein lauter Trampel. Ich kann das nicht!›

Ich drehte mich zu ihm um, näherte mich einige Schritte und sagte freundlich, aber dennoch bestimmt. ‹Doch, Columbo, du kannst das! Vertrau mir und meinem Urteil!›

Ein Ruck ging durch seine Körpersprache. Er holte erneut tief Luft und meinte dann zuversichtlich: ‹Ja, ich kann das.›

Und so gingen wir einfach an ihnen vorbei. 

Selbstverständlich bemerkten sie uns nicht.

❄️

Nachdem wir den Damm hinter uns gelassen und die HCZ betreten hatten, hatten wir den Großteil des Weges bewältigt. 

Wir tauchten hinab in die Straßenschluchten des Stadtkerns von Boston. 

Das Bild der Umgebung hatte sich völlig verändert. Die kleinen, maximal fünfstöckigen Wohnhäuser waren den Hochhäuser der Konzernenklaven gewichen, die imposant über uns aufragten. 

NeoNET Tower 4 stand immer noch. Die Lücke, wo der Angriff des Drachen stattgefunden hatte, war deutlich zu erkennen. Sie war wirklich riesig.

Die Auswirkungen der Dragon-Line waren immer noch zu spüren. Sicher hatte der Große Drache Celedyr auch darum ausgerechnet hier bauen lassen.

Während hier unten keine gesunde Metamenschenseele zu sehen war und auch hier die Fahrzeuge ordentlich geparkt worden waren, hatte sich das Leben in den nun völlig geschlossenen Konzernenklaven offenbar überhaupt nicht verändert. Metamenschen gingen die teilweise gläsernen Skyways entlang, fuhren in den Außenfahrstühlen und bewegten sich in Skytaxis von Gebäude zu Gebäude, ohne die Straßen eines Blickes zu würdigen. Man konnte das Verhalten der Anzüge als kalt, unachtsam und egoistisch bezeichnen. Doch es war nicht weiter überraschend. Ein Großteil der Konzernbürger verbrachte ihr ganzes Leben, ohne das exterritoriale Konzerngelände auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben. Sie wurden dort geboren, wuchsen auf, arbeiteten, gründeten eigene Familien und wurden nach ihrem Tod dort beigesetzt. Das alles geschah unter der Schirmherrschaft und der intensiven Beeinflussung des Konzerns. Je weiter oben jemand lebte, desto höhergestellt war er meist auch und desto luxuriöser sah seine Welt aus. Besserverdienende bereisten die Welt zwar, doch auch während ihrer Reisen waren sie meist von Konzernanlage zu Konzernanlage unterwegs. Die niederen Etagen hatten vielleicht sogar etwas von dem mitbekommen, was hier draußen abging. Doch warum sollten sie auch nur visuell ihre gemütliche Blase verlassen, wo man doch einfach das Bild des Fensters auf den Ausblick einer Karibikinsel schalten konnte? 

Und selbst, wenn sie etwas wussten, warum sollte sie das kümmern?

Hier unten, bei den normalen UCAS-Bürgern auf den Straßen, gab es dafür jede Menge Shambler. Ein Teil von ihnen gehörte sicher zu den namen- und SIN-losen Squattern. Doch das traf beileibe nicht auf alle zu. Krankenschwestern, Pfleger, Studenten, Arbeiter und sogar Männer und Frauen in Anzügen waren unter den Infizierten. Jedenfalls, wenn ich mal ganz simpel von der inzwischen derangierten Kleidung auf einen Beruf hätte tippen sollen.

Unsere Commlinks liefen im Hidden-Modus, wir waren verschleiert, und so konnten wir unbehelligt vorankommen.

Unser Weg zum Boston Plaza 1 führte direkt an den beiden Korkenzieher-Türmen von Mitsuhama Computer Technologies vorbei. 

Soweit man es vom Halbdunklen der Straße aus sehen konnte, tobte dort oben das ganz normale Leben.

PITSCHUH!  schu… schu…schuh.

Ein Schuss hallte durch die Straße und wurde durch die Häuser reflektiert.

Gleich darauf noch mal: Pitschuh! 

‹Das klang nach einem großen Kaliber›, kommentierte Sinister.

Doc nickte. ‹Ich würde auf ein Scharfschützengewehr wetten.›

Kurz darauf wurde uns klar, wer hier warum geschossen hatte.

Die Konzerngardisten von MCT knallten aus sicherer Entfernung immer wieder Shambler ab. So sorgten sie also dafür, dass die Plätze direkt vor ihre Enklave frei von Shamblern waren. Was dann auch endgültig bewies, dass die Konzerne ihre Leute mit eigenen Transporten versorgten. Wäre dem nicht so, würde man wohl sparsamer mit der Munition umgehen.

Für uns bedeutete das im Moment aber nur, dass wir aufpassen mussten, nicht versehentlich in ein Schussfeld zu geraden. So unsichtbar, wie wir gerade waren.

Wir glichen unseren Weg den neuen Tatsachen an.

❄️

Ganze 14 Shambler standen zwischen uns und ‚Boston Plaza Number One‘ und schwankten und murmelten vor sich hin. 

„ … numnumnum … Cerberus warnen … numnum.“

Jetzt hatte ich es auch gehört.  

‹Die werden uns kaum bemerken!›, stellte Columbo klar, was er vorhin selbst erfahren hatte.

Liam verzog das Gesicht, ‹Da wäre ich mir nicht so sicher. Über die Matrix könnten sie uns schon sehen. Ich sehe sie ja auch. Da müssten wir schon alles ausmachen.“

Und dann konnten sie via Matrix immer noch Liams Living Persona bemerken, was ich nun nicht laut aussprach. ‹Wir sollten sie eventuell ausschalten›, sagte ich an. ‹Dann können sie uns nachher auch nicht den Rückweg versperren.“

Wie zur Bestätigung sahen zwei der Shambler plötzlich in unsere Richtung. 

Augenblicklich ging ein Ruck durch die Menge.

Warden Ramirez materialisierte sich und trat schützend vor mich, ohne dass ich ihm dazu einen Befehl erteilt hatte.

Sinister zog blitzgeschwind die Waffe aus ihrem Rucksack.

Ich trat geschickt zehn Meter zur Seite, Richtung Wasser, um auf ein höheres Energieniveau der Dragon-Line zugreifen zu können. Ich zog die Magie um mich herum zusammen. Obwohl, sie floss mir eigentlich mehr entgegen, so, als verlange sie danach, von mir benutzt zu werden. Ich formte eine Eisfläche. Sie sollte die sich in Bewegung setzenden Shambler beschäftigen. Das hatte bisher immer gut funktioniert.

Der Boden überzog sich augenblicklich knisternd mit Eiskristallen. Gleich der vorderste Shambler rutschte aus.

Ich hob überrascht beide Augenbrauen, als ich sah, wie er in züngelnde Flammen stürzte, die sich auf dem Eis gebildet hatten. Er begann zu schreien. Das Feuer musste ein Nebeneffekt der Dragon-Line sein. 

Ihre Energie kitzelte in meinen Fingern.

Doc hatte inzwischen schon zwei Pistolen gezogen. Der erste Shambler, der uns zu nahe kam, würde von ihm niedergesteckt werden.

Liam lehnte sich gegen die Hauswand und schloss die Augen.

Auch Columbo zog eine Waffe.

Sinister gab Deckungsfeuer auf die Shambler ab, was weitere ausrutschen und ins bereits langsam erlöschende Feuer fallen ließ. Die Energie aus der Stick-n-Shock-Munition knisterte.

Ich zauberte erneut. Es machte ja gerade auch so besonders viel Spaß. Diesmal vereiste ich die Shambler selbst, um sie erneut zu verlangsamen.

Shark Finn hatte sein Sturmgewehr gezogen und deckte zwei Ziele mit einem Long Burst ein. Auch er hatte nur betäubende Munition geladen, so, wie wir es vereinbart hatten.

Doc wollte nun doch lieber gleich mitspielen. Er bewegte sich ein Stück. Mit dem Colt Government in der Hand gab er einen Double Tap ab. Er hatte Gelmunition geladen. Die Treffer schlugen genau am Kopf des Shamblers ein, der zu Boden stürzte und auf dem Eis entlangschlitterte

Columbo rief: „Zurückbleiben bitte: Feuerball Stufe Sechs im Anmarsch.“

Alle Shambler fingen sofort Feuer. Sie schrien und rutschten auf dem Eis aus, das sich wegen der Wärme aufzulösen begann.

‹Team, bitte schaltet sie final aus. Sie müssen nicht unnötig leiden›, forderte ich.

Finn nickte, trat vor, fuhr seinen Stab zu einem Speer aus und beendete unser Werk. Im Vorbeigehen sagte er an Columbo gerichtet: ‹Satter Feuerball, Bro’, warum schieß ich mit Stick-n-Shock?›

Columbo erwiderte nichts. Das war auch nicht nötig. Immerhin hatte ich mit dem Feuer angefangen.

Eine MCT-Drohne kam angeschwebt, um nach dem Rechten zu sehen.

‹Schlage Positionswechsel vor!›, meinte Sinister nun.

‹Find ich gut›, erklärte Liam. ‹Aber eine Sache hab ich noch!› Liam zog ein eigentümliches Gerät aus seinem Rucksack. ‹Das wollte ich schon immer mal ausprobieren! Weil ich es nicht mitbringen konnte, habe ich es in den letzten zwei Tagen neu gebaut.› Er richtete das Gerät irgendwie auf die Drohne und drückte ab. Maximal war ein leichtes Flimmern zu sehen gewesen, doch die Drohne hatte das nicht vertragen. Sie stürzte ab. 

Liam kniete sich neben der Drohne nieder und hantierte daran rum. ‹So, jetzt können wir›, erklärte er zufrieden. 

‹Ich schlage Diamond Formation vor!›, meinte Sinister nun.

‹Copy›, bestätigte ich. 

Mein Team nahm mich in die Mitte. 

❄️

[Song 13: Sigrid (Justice League Soundtrack) - Everybody Knows3] Wir betraten die völlig leere Lobby des Hochhauses. 

Ich hatte noch nie erlebt, dass ein bewohntes Haus so still sein konnte.

Der Gestank von Angst und Tod lag in der Luft. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher, ob er von innen kam oder von außen angesogen worden war.

Wir bezogen vor den Fahrstühlen Position. 

‹Gehst du gucken, Columbo?›, fragte Liam.

‹Du meinst projiziert?›, fragte Columbo nach.

‹Yep!›

Columbo nickte und sah sich um.

Liam dachte an einen Etagenplan des Gebäudes, den er sich offenbar runtergezogen hatte und zeigte eine Stelle darauf an. ‹Hier vom Fahrstuhl aus den Gang runter liegt Apartment 14.›

‹Ich habe es mir eingeprägt!›, sagte Columbo an.

Ich wies auf einen Sessel. ‹Setz dich doch.›

Columbo nahm Platz. Kurz darauf sackte sein Körper zusammen. Er materialisierte sich vor uns, um sich noch einmal zu vergewissern, dass er sich den 64. Stock ebenfalls richtig gemerkt hatte.

„Hast du!“, sagte ich laut an und bat den Geist gleichzeitig, die Verschleierung aufzuheben. Sollte irgendetwas passieren und uns Columbos astrale Gestalt suchen müssen, würde er uns so leichter finden. Selbstverständlich sagte ich auch das an.

Columbos astrale Gestalt, die nicht sonderlich anders aussah als er selbst im Anzug und mit Mantel, schwebte auf die geschlossene Fahrstuhltür zu und verschwand im Schacht.

Es war gar nicht so einfach, den 64. Stock zu finden. Aus dem Astralraum heraus konnte er die Zahlen nicht lesen und würde sich auf’s Zählen und seine Intuition verlassen müssen.

Dann warteten wir.

Ich hoffte inständig, dass er den Hub-Blogger fand und dieser noch am Leben war. Ich wollte ihn so gerne retten.

❄️

Gut zehn Minuten später kehrte Bewegung in Columbos Körper zurück.

‹Ich habe ihn gefunden, glaube ich, und er lebt noch›, verkündete er.

‹Warum hast du das nicht zwischendurch angesagt?›, pflaumte Liam. ‹Der Zauber war doch noch an.›

‹Daran habe ich nicht gedacht›, gab Columbo zu.

Ich lächelte. ‹Kein Problem, was meintest du mit 'er lebt noch'?›

‹Er sieht aus, als könnte er Wasser, Essen und Pflege gebrauchen. Lange hält er nicht mehr durch.›

Aber das brauchte er ja auch nicht, denn jetzt waren wir ja da. 

‹Kannst du uns den Schacht hoch levitieren Columbo?›, fragte ich.

‹Uns alle?›, fragte er entsetzt.

Auch Liam sah mich skeptisch an.

‹Ich würde alleine fliegen›, erklärte ich.

Liam schüttete verständnislos dem Kopf.

PING!

‹Wir können auch einfach den Fahrstuhl nehmen, Cousine.›

Ich lachte herzlich. ‹Machen wir es so!› Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass der Fahrstuhl keinen Strom hatte. Doch Liam hatte Columbo nur auf astrale Erkundung geschickt, weil dies die logischste Option gewesen war.

❄️

Auch auf den Fluren des 64. Stocks war alles still. Ich hoffte sehr, dass das nicht daran lag, dass die meisten bereits tot waren. Ich hätte nach Bewegung spüren können, um mehr zu erfahren. Doch zu meinem Schutz und dem meines Teams hielt ich es für besser, mich nur auf meine Mission zu konzentrieren.

Columbo wusste zu berichten, dass der Hub-Blogger die Tür mit einem Tisch verbarrikadiert hatte.

Liam nickte und machte sich an der Tür zu schaffen.

Er sprühte etwas auf. Dann gingen wir alle in Deckung. 

Einige Sekunden später folgte ein sattes BUMP. Dann war ein relativ dezentes Scheppern und Rumpeln zu hören.

Die Tür war aus den Angeln gedrückt worden und lag nun auf den Trümmern des Tisches. Außer unserem Ziel, das laut Columbo im Schlafzimmer lag, würde niemand in der Wohnung sein. Wir drangen dennoch vorsichtig ein, allein, um im Trideo gut rüberzukommen, denn das hier zeichneten wir auf. 

Unter dem Schutz meiner Howling Shadows betrat ich das Schlafzimmer. 

Leere Vorratsdosen und Verpackungen lagen neben dem Bett. Die klassischen Supplies konnte ich nicht darunter entdecken. 

Ich grinste. Bei dem Hub-Blogger handelte es sich um einen Zwerg, den ich auf Anfang 30 schätze. 

Ich nahm astral wahr. Es war, wie Columbo gesagt hatte. Er war mitgenommen und würde unversorgt nicht mehr lange durchhalten. Doch das Wichtigste: Er war nicht infiziert.

Ich hockte mich unter den wachsamen Augen von Shark Finn ans Bett, der Müsli-Riegel und Wasser bereithielt, und zauberte. 

Healthy Glow hat auch eine belebende Wirkung.

❄️

Es dauerte einen Moment, dann schlug der Zwerg mit flatternden Wimpern die Augen auf und sah mich an.

Er lächelte verträumt. „Ich bin im Himmel!“, stellte er glücklich murmelnd fest.

Ich lachte leise und perlend. „Noch nicht. Ich bin Snowcat. Meine Howling Shadows und ich sind gekommen, um dich zu retten. Aber wir haben leider keine Pizza auftreiben können!“

Der Zwerg rieb sich die Augen und setzte sich auf. „Wow! Das ist bestimmt kein Traum?“

„Nope!“, erwiderte Shark Finn.

Der Zwerg streckte die Arme in meine Richtung aus wie ein Kind, das auf den Arm genommen werden will. 

Ich lachte abermals. „Vergiss es. Wenn du nicht mehr alleine laufen kannst, trägt dich Shark Finn.“

❄️

Nach einem von Tiernans handgefertigten Riegeln und einem halben Liter Wasser konnte sich Hub, wie wir ihn kurzerhand tauften, von selbst auf den Beinen halten. Wir ließen ihn schnell ein paar Sachen zusammenpacken und machten, dass wir wegkamen. 

Es gab keinen Grund, hier länger als nötig rumzuhängen.

Auf dem Weg nach unten machten wir ihm unsere Verhaltensregeln klar, die ihm alle problemlos einleuchteten. Bevor wir das Gebäude verließen, bat ich Warden Ramirez erneut darum, uns alle zu verschleiern.

Nur wenige Meter neben Boston Plaza No. 1 ragte die Konzernenklave von MCT über der Straße auf. Selbst, wenn sie dort viel mehr wussten, sie würden ihr Wissen mit niemanden teilen, und helfen würden sie nur denen, die zu ihnen gehörten.

So war nun mal der Lauf der Sechsten Welt. 

Jeder wusste das.

❄️

Etwas überrascht registrierte ich rosa Staub und Glitzer um die Absturzstelle der Drohne herum. 

Liam freute sich und hob eine kleine Kamera auf, die er offenbar zuvor dort liegen gelassen hatte.

Das Filmchen, dass er wenig später ins Teamnetzwerk einspielte, als wir den Damm bereits wieder hinter uns ge- und die HCZ damit verlassen hatte, zeigte, wie sich ein MCT-Team unserer Kampfstelle näherte und dann durch eine wundervolle Explosion in pink vertrieben worden war. Dank ihrer starken Panzerung würde den Metamenschen selbst nicht viel passiert sein. Aber die Druckwelle hatte sie ganz schön durch die Gegend geschleudert.

‹Das Pink ist eine Hommage an Bubbles!›, erklärte Liam stolz.

❄️

Auf dem restlichen Rückweg blieb genug Zeit, um Hub zu fragen, wie es ihm in den letzten Tagen ergangen war. Tatsächlich war sein Ende dadurch eingeleitet worden, dass er seinen Community Leader nicht hatte ausmachen können und man im Haus - oder zumindest bei ihm - das Wasser abgestellt hatte. Warum auch immer. Später hatte er sich nicht mehr aus seinem Appartement gewagt, da Plünderer und Shambler gleichermaßen durchs Haus gezogen waren.

Zwischendurch lachte Hub immer wieder. Es klang ein wenig verrückt, aber wahrscheinlich war es einfach nur die unbändige Freude, doch noch gerettet worden zu sein.

❄️

Etwa eine halbe Stunde Wegzeit, bevor wir wieder unser Lager bei Tango erreichen würden, war das Netz mal wieder gut genug, dass mich Nachrichten aus dem gesamten Raum Boston erreichen konnten.

Eine der Textnachrichten kam von einem unbekannten Absender: <An das außerordentliche Shadowrunner-Team, das heute den Hub infiltriert hat, falls ihr Interesse an einem Job habt, meldet euch! DJ> Eine Comm-ID war angehängt.

Na, wenn das keine Überraschung war?

Doc und Liam hatte ich informiert, aber ansonsten hängte ich es erst mal nicht an die große Glocke.

❄️

Hub-Blogger ✔

Als wir am Abend des 13.06.2076 Tangos Studio erreichten und mit einem glücklichen Hub-Blogger im Schlepptau den Wohnbereich betraten, fragte Fang unseren Neuankömmling: „Und, hast du Kaffee mitgebracht?“

„Äh, sorry, nein!“, erwiderte der Zwerg.

„Und was ist mit Tee?“, wollte Tiernan wissen.

Wir lachten.

Dave ging zu Hub und erklärte: „Mach dir nichts draus, das haben sie mich auch gefragt.“ 

❄️❄️

[Song 14: Lindsey Stirling - Shadows3] Kurz vor Mitternacht hatte ich mich wieder auf das Dach gegenüber zurückgezogen und mich auf den Aufbau gesetzt. Ich blickte über Boston hinweg, so weit es die Skyline zuließ. Auch heute war wieder Feuerschein am Horizont zu erkennen.

Wir waren gerade erst den vierten Tag hier und hatten schon eine Menge erreicht.

Obwohl ich nie an eine Enzephalitis-Epidemie geglaubt hatte, hatte mich überrascht, was in Boston tatsächlich geschehen war und damit meinte ich keine Überraschung im positiven Sinn. Natürlich hätte mir klar sein müssen, dass keine Kleinigkeit herauskam, wenn Drachen involviert waren.

Die Shambler beunruhigten mich. CFD beunruhigte mich noch mehr. Angst wäre wohl dennoch zu viel dazu gesagt gewesen.

Ich holte tief Luft. 

Vier Tage waren nichts.

Die Erinnerung an die Macht, die ich auf der Dragon-Line gespürt und in mir aufgenommen hatte, ließ mich wölfisch grinsen.

Die Magie hatte einen Geschmack auf meiner astralen Zunge hinterlassen, an dem ich mich kaum hatte satttrinken können. Ich wertete das als eindeutiges Zeichen, dass ich mich richtig entschieden hatte.

Und dennoch…

Ich seufzte tief…

❄️

Mauz!

Ich drehte mich um. „Ah, da bist du ja wieder!“, sagte ich sanft und überaus erfreut zu dem schwarzweißen Kätzchen. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“

Miauz!

Ich holte Katzenfutter, zwei Schalen und eine Flasche mit Wasser aus einem Beutel. Die Katze strich mir schnurrend um die Beine, als ich ihr Nachtmahl vorbereitete.

Ich stellte die Schalen ab und streichelte das Kätzchen kurz, bevor ich mich wieder setzte. Ich ließ die Beine über die Dachkante baumeln, sah der Katze beim Verspeisen ihrer Mahlzeit zu und hing weiter meinen Gedanken nach.

Die Shambler wollten Cerberus warnen. Meiner Theorie nach war das ganze Unglück überhaupt nur geschehen, weil der Große Drache Celedyr versuchte, Cerberus wieder in seinen Drachenkörper Eliohann zurückzubringen. Wahrscheinlich hatte Celedyr darum an den CFD-Naniten forschen lassen, da diese ja offenbar Persönlichkeiten aus der Matrix in lebendige, metamenschliche Gehirne pflanzen konnten. Wenn die Boston-Naniten nun der Versuch gewesen waren, Cerberus in Eliohann zu bringen, dann passte es nicht, dass sie ihn warnen wollten. In dieser Kluft in meiner Theorie lag ein Geheimnis, das ich unbedingt ergründen wollte.

Als die Katze fertig gefressen hatte, kam sie sich bei mir bedanken. Sie schmuste sich an mich. Das war ein schönes Gefühl.

„Hast du Lust auf ein bisschen Musik, während du dich putzt?“, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. 

Sie schnurrte sogar, was ich als wohlwollendes Ja interpretierte.

Ich stand auf und holte meine E-Violine aus dem Beutel. Ich verband das Instrument mit meinem Commlink. Die Katze würde also nicht wirklich viel von der Musik hören können, aber das würde sie hoffentlich nicht stören.

Ich hatte Lust, zu musizieren. Ich liebte Kunst in jeder Form, hatte Malen, Zeichnen und Musikmachen schon immer geliebt. Das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern. Doch diese Liebe reichte nicht aus, um in einer Stadt mit Lockdown auf einem Dach zu stehen und die Nachbarschaft mit meinem Violinenspiel zu unterhalten. Im Zweifel würde ich Shambler anlocken, die offenbar auf Geräusche fixiert waren. 

Auch auf meine Panzerung hatte ich nicht verzichten wollen. Ich trug immerhin Ballettschuhe zum Catsuit und hatte außerdem einen weißen Tüllrock über den Anzug gezogen. 

Ich startete Ballhaus 1, damit sie mich filmen konnte, gab den Ton-Feed der Violine im Teamnetzwerk frei, legte einen Beat für die Grundlage fest und begann, im Rhythmus zu spielen und zu tanzen. 

Ja, es war Mitternacht. Zeiten für Rituale spielten für mich keine Rolle mehr. Die Musik erfüllte mich, der Tanz beflügelte mich und das half mir, meine Gedanken zu ordnen.

❄️

Gut eine Stunde später ließ ich mich leicht verschwitzt und auf eine angenehme Art erschöpft auf dem Dachsims nieder. Die schwarzweiße Katze hatte sich inzwischen zu Ende geputzt, mir zugesehen und war letztendlich eingeschlafen.

Nun, da ich mich gesetzt hatte, kam sie zu mir auf den Schoß und setzte sich ebenfalls. Ich kraulte sie, bis sie zufrieden schnurrte. „Ich freue mich sehr, dass du mich hier oben besuchst“, erzählte ich leise und sanft. „Meine Freundin fehlt mir ein bisschen, weißt du?“ Ich kam dem Kätzchen noch näher und flüsterte: „Aber das bleibt unser Geheimnis!“, erklärte ich im verschwörerischen Ton. Die Katze streckte sich und drückte ihren Kopf gegen meine Stirn, dabei schnurrte sie unaufhörlich.

Was die Kluft in meiner Theorie anging, war ich nicht weitergekommen, doch ich war nun sicher, auf dem richtigen Weg zu sein und die entsprechenden Puzzleteile finden zu können.

Die Katze war übrigens nicht die einzige gewesen, die meinem Spiel beigewohnt hatte. Mein Commlink zeigte an, dass alle Howling Shadows und auch unsere Geretteten meinem Feed zugeschaltet gewesen waren.

Ich lächelte glücklich und streichelte die Katze weiter, die es sich inzwischen wieder auf meinen Beinen gemütlich gemacht hatte. Gemeinsam sahen wir hinauf in den wundervollen Sternenhimmel. 

❄️❄️❄️

Ende der Episode

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Wir freuen uns, dass du uns während dieser Geschichte begleitest hast, danken dir für’s Lesen und verbleiben bis zum nächsten Mal:

Snowcat and the Howling Shadows

An dieser Stelle bedanken sich die Spieler unserer Runde bei allen, die an der Entwicklung und Verarbeitung der Shadowrun®-Produkte mitgewirkt haben. Ohne ihre Arbeit wäre unser Spiel nicht möglich!

We would like to thank the authors, artists and all others who are involved in the development of the Shadowrun® rules, adventures and stories. Without them, our game would not be possible.

Vielen Dank auch an @Vin für das Korrekturlesen. ;*

*reckundstrekgenüsslich* Hoffe Ihr habt Spass; *knutschi*